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Gefallen mit Folgen – Ragna Ida Ziegel

 

Die Sonne stand bereits ziemlich tief um diese Jahreszeit und Nils setzte sich seine Sonnenbrille auf. Sein Cabriolet fuhr er offen. Das Wetter lud heute einfach dazu ein. Wenn auch die Temperatur etwas niedrig war, konnte er es gut mit der Sitz- und Fußraumheizung aushalten und das gegen Ende Oktober. Das Radio spielte passende Musik zu dem wunderbaren Sonnenschein des heutigen Tages.

Nach den letzten grauen, nebligen Tagen konnte Nils einfach nicht anders, als mit offenem Verdeck fahren. Sicherlich schauten die Leute etwas komisch, wenn er so durch die Stadt gondelte, nur war ihm das, ehrlich gesagt, scheißegal. Er hatte irgendwann aufgehört, sich anzupassen, denn dadurch hatte er irgendwann nicht mehr sein eigenes Leben gelebt, sondern das der anderen.

Nun war er allerdings seit einigen Jahren frei und genoss es. Einige Bekannte und Freunde, auch einige Verwandte, waren nach seinem Befreiungsschlag, wie er es nannte, auf der Strecke geblieben. Auf die Menschen, die jetzt noch da waren, konnte er sich allerdings 100 Prozent verlassen und das war ein wunderbares Gefühl.

Nicht mehr lange, und es würde mal wieder eine Null an seinem Alter baumeln. Nicht, dass er mit seinem Alter wirklich ein Problem hätte. Nur fragte er sich allmählich, wofür er so viel gearbeitet und Geld angehäuft hatte, wenn er es im Grunde mit niemandem teilen konnte. Halt, stopp, so war es nicht, er teilte ja, allerdings nicht so, wie er es sich wünschte. Er half seiner Nichte und seinem Neffen und griff somit seinem Bruder unter die Arme, der mit seinem Betrieb zurzeit wirklich nur Pech hatte. Bei einem Brand im Sommer war vieles den Flammen zum Opfer gefallen.

Die Versicherung hatte sich erst einmal ziemlich quer gestellt und nicht gezahlt, weil die Ursache des Feuers nicht geklärt werden konnte. So hatte Nils zunächst die laufenden Kosten übernommen, damit der Betrieb weiterlief und niemand entlassen werden musste.

Nachdem nun aber wieder alles seinen Gang ging und er seinen Bruder nicht mehr unterstützen musste, hatte Nils wieder reichlich Geld übrig, deshalb erfüllte er nun eben seiner Nichte und seinem Neffen den einen oder anderen kleineren Wunsch. Übertreiben wollte er es allerdings nicht, verwöhnte Rotzlöffel sollten es nicht werden. Allerdings sah es danach sowieso nicht aus; denn sie engagierten sich sehr für die Kirche und den Jugendtreff in ihrem Ort und beide gaben kostenlos Nachhilfe, weil es ihnen einfach Spaß machte.

Nils suchte einen Parkplatz in der Innenstadt und ging zu seiner Lieblingseisdiele, die trotz der Jahreszeit geöffnet hatte. Es standen sogar noch Stühle und Tische auf dem Bürgersteig. Nils entschied sich für einen Platz, der von der Sonne beschienen wurde und bestellte einen Latte Macchiato Karamell und ein Stück Käsekuchen. Beides war wie immer ein Gedicht und die Sonne dazu das Sahnehäubchen.

Er sah hoch, als zwei wildgewordene Teenies auf ihn zu stürzten. „Nils!“, riefen beide und einen Augenblick später hingen sie auch schon an seinem Hals.

„Cool, dass wir dich hier treffen“, freute sich Rebecca.

„Genau“, stimmte Raffael seiner Schwester zu.

„Wieso?“, fragte Nils vorsichtig. Er kannte seine Nichte. Wenn die so überschwänglich war, wollte sie meistens etwas von ihm.

„Na, es ist doch bald Halloween.“

Nils schaute sie einen Moment an, bevor er mit einem komischen Gefühl: „Ja, und?“ fragte. Nun ergriff Raffael das Wort und erklärte schnell, dass im Jugendtreff eine Halloween-Party steigen sollte und dass dafür noch Aufsichtspersonen fehlten.

„Nachtigall, ick hör dir trapsen. Und ihr wollt, dass ich das mache?“

„Ähm, ja und nein.“

Verständnislos sah Nils von Rebecca zu Raffael. „Muss ich nicht verstehen, oder?“

Mit einem tiefen Seufzer erzählte Rebecca, dass schon alles geplant und abgesegnet gewesen, nun aber jemand krank geworden wäre und bis zur Party auch nicht mehr gesund werden würde.

„Und was bringt euch auf die Idee, dass ich der Richtige bin?“

„Na, du bist eben du und das passt einfach. Allerdings brauchst du dann ein Kostüm“, erklärte Raffael.

„Nein, das ist nicht euer Ernst? Ich soll mich auch noch verkleiden? Aufsicht machen ist ja nicht das Problem, aber verkleiden … Nein, nein, nein, nein, neeeeeeeiiiiiiiiiin!“

„Nils, du bist doch unser herzallerliebster Onkel und würdest uns doch niemals einen Wunsch abschlagen“, säuselte seine Nichte.

Oh, wie Nils es hasste, wenn Rebecca so anfing. Nun war es nur eine Frage der Zeit und er würde klein beigeben.

„Du gibst doch sowieso nach. Wieso sträubst du dich immer so?“, fragte sein Neffe.

Ergeben senkte Nils den Blick auf seinen Schoß. „Okay, okay. Ich mache es ja. Und habt ihr auch schon ein Kostüm, oder muss ich mir das selbst besorgen?“

„Öhm.“ Rebecca guckte ganz verlegen und meinte dann: „Wäre schön, wenn du als Djinn gehen würdest. Du sahst letztes Mal wahnsinnig cool aus.“

Das letzte Mal war der Fasching im Frühjahr gewesen und es auch um so eine Aktion wie diese jetzt gegangen.

„Aber meine Haare sind doch gerade erst nachgewachsen. Wenn ich als Djinn gehe, muss ich mir wieder eine Glatze rasieren.“

Der Gedanke schmeckte ihm gar nicht. Vor allem während des kalten Winters wollte er nicht auf seine Haare verzichten müssen. Oh nein, das würde er diesmal nicht mitmachen. Er würde sich einfach weigern. Punkt – Ende – Aus.

 

Wie sollte es anders kommen? Natürlich stand er am letzten Oktoberabend in der Turnhalle des Jugendtreffs, in Verkleidung und ohne Haare auf dem Kopf. Er schaute sich um und musterte all die Hexen, Vampire und anderen Gestalten, die sich hier tummelten.

„Wieso lass ich mich nur immer breitschlagen?“, murmelte er leise vor sich hin.

„Na ja, so breit bist du doch gar nicht, siehst doch wirklich ansehnlich aus. Nur etwas wenig Haare, aber man kann ja bekanntlich nicht alles haben.“

Überrascht blickte Nils sich um und entdeckte eine Schönheit aus dem Orient. Erst bei genaueren Hinsehen erkannt er, dass es ein Mann war, der neben ihm stand und keine Frau.

„Ähm, ja, genau. Aber zum Glück wachsen sie ja wieder. Auch wenn es in nächster Zeit ziemlich kalt am Kopf wird. Aber dafür hab ich ja eine schöne warme selbstgestrickte Mütze bekommen.“

Sein Nebenmann lachte. „Stehst du bei deiner Frau so unter dem Pantoffel, dass du dich zu so etwas breitschlagen lässt?“

„Nee, das hier habe ich meiner Nichte und meinem Neffen zu verdanken“, erwiderte Nils und sein Blick wanderte aufmerksam durch die Halle.

„Dann hast du allerdings eine sehr tolerante Gattin, dass sie so etwas durchgehen lässt.“

Nils sah die Schönheit an und meinte nach längerem Überlegen: „Hab niemanden, der mir da reinreden kann. Ich bin fast mein eigener Herr, wenn man meine Nichte und meinem Neffen mal ausschließt. Und wer hat dich in den heißen Fummel gesteckt, oder bevorzugst du so etwas?“

„Die Kinder meines Freundes. Die meinten, mir würde so etwas stehen.“

Nils war nicht sicher, was er von dieser Aussage halten sollte. Freund in Bezug auf besten Freund, oder doch eher Partner? Er konnte nicht leugnen, dass ihm sein Gegenüber gefiel. Auch, wenn er unter der ganzen Schminke nicht viel erkennen konnte. Allein die schöne Stimme ging ihm durch und durch.

„Wer hat dich denn so geschminkt?“, fragte Nils neugierig.

„Ich mich selber, ist mein Beruf. Ich bin Visagist.“

An der Eingangstür begannen ein paar Leute, lautstark miteinander zu streiten.

„Moment, nicht weglaufen!“, bat er im Weggehen. Als er bei den Streitenden ankam, wollte gerade ein Typ aus einer Gruppe von drei Vampiren einem Werwolf ans Fell. Nils schnappte den Vampir am Arm und hielt ihn fest, bevor dessen Faust den Werwolf erwischen konnte. „Also, Jungs, was ist hier los? Wenn ihr Zoff wollt, seid ihr hier fehl am Platz.“

Der Vampir antwortete: „Der Kerl soll die Finger von meiner Freundin lassen!“ Dabei knurrte er den Wolf an.

Dieser hob die Hände und schüttelte den Kopf. „Ich will nichts von Theresa, sie ist doch nur meine beste Freundin“, sagte er mit ängstlicher Stimme.

„Lasse, wir haben dir doch gesagt, dass er nichts von ihr will“, versuchten die anderen Vampire den Wütenden zu beschwichtigen.

„Er hängt an ihr wie eine Klette“, beharrte Lasse.

So ging es noch eine Weile hin und her, bis besagte Theresa endlich dazu kam und sich ihren Lasse so richtig zur Brust nahm. Danach war der Macho so klein mit Hut, dass Nils sich beruhigt wieder zurückziehen konnte. Allerdings würde er die Gruppe im Auge behalten, sicher war sicher.

Nils schaute sich um, wo denn die Schöne aus 1001 Nacht geblieben war. Er konnte sie nirgends entdecken. Nach einiger Zeit fiel ihm wieder der kleine Werwolf auf, der ein wenig abseits stand und immer wieder zu der Gruppe Vampire hinüber guckte. Theresa und Lasse waren gerade Tanzen gegangen; somit standen da nur noch zwei Vampire. Als sich einer der beiden umdrehte und in Richtung des kleinen Wolfes schaute, blicke dieser schnell zu Boden. Der Vampir ging zu dem Wölfchen, nahm ihn einfach in den Arm und sagte ihm etwas ins Ohr. Nun kam Leben in den Werwolf: Er schlang seine Arme um den Hals des Vampirs und küsste ihn.

Nils schmunzelte und wollte sich gerade umdrehen, um etwas zu trinken holen, als er von der Seite diese Wahnsinnsstimme hörte: „Ach ja, junge Liebe, wie romantisch!“, sagte die morgenländische Schönheit mit einem Anflug leichter Ironie.

„Ja, schon irgendwie niedlich. Schau mal, jetzt gehen sie doch tatsächlich miteinander tanzen. Da bin ich jetzt mal auf Lasses Reaktion gespannt.“

Tatsächlich bekam Nils etwas zu sehen. Nämlich einen Lasse, dem der Mund offen stand und der den Blick nicht von dem tanzenden Paar lösen konnte. Theresa hingegen lächelte freudig und nickte den beiden aufmunternd zu.

Nils wollte gerade seinen Nachbarn ansprechen, als ihm auffiel, dass er dessen Namen nicht wusste. „Sag mal, wie heißt du holde Schönheit eigentlich? Ich bin Nils.“

„Holde Schönheit? Scherzkeks! Die holde Schönheit hört auf den Namen Marten.“

„Darf ich der entzückenden Dame etwas zu trinken mitbringen?“

„Das ist zu gütig, verehrter Nils. Ich nehme eine Cola.“

„Wie Sie wünschen, holde Augenweide.“

Nils ging hinüber zur Bar und besorgte die Getränke. Er selbst nahm ebenfalls eine Cola, da er später noch nach Hause fahren musste. Wieder bei Marten angekommen, reichte er ihm das Glas. Während sie tranken, unterhielten sie sich prächtig. Nils erfuhr einiges über Marten, wie auch umgekehrt. Nur jedes Mal, wenn Nils das Thema Freund und Partner ansprach, blockte Marten ab. Da ließ sich nichts machen, so sehr es ihn auch interessierte.

Irgendwann landeten sie auf der Tanzfläche und harmonierten so gut miteinander, dass ein fliegender Führungswechsel überhaupt kein Problem darstellte. Leider ging jeder Abend irgendwann zu Ende, so auch dieser.

Nachdem Nils Raffael und Rebecca eingesammelt und auch Marten die Kinder seines Freundes gefunden hatte, verabschiedeten sie sich voneinander. So gern Nils Marten auch umarmt hätte, reichte er ihm nur die Hand und wünschte ihm eine Gute Nacht.

 

Schnell brachte Nils seine Nichte und seinen Neffen nach Hause und fuhr zu seiner Wohnung, die ihm heute Nacht besonders groß und leer vorkam. Weitaus schlimmer war jedoch die Tatsache, dass er Marten nicht nach seiner Telefonnummer gefragt hatte. So würde er nie herausfinden, ob da eventuell mehr laufen könnte. Es ergab keinen Sinn, weiter darüber nachzudenken. Er ging duschen und anschließend ins Bett. Morgen, gegen zwölf, sollte er Raffael und Rebecca abholen und mit ihnen zum Jugendtreff fahren, dann war Aufräumen angesagt. Trotz aller Vorbehalte war der Abend wirklich gut verlaufen und bis auf das vampirische Eifersuchtsdrama war es ruhig geblieben.

Das Aufräumen in der Halle ging zügig vonstatten. Es waren viele Helfer anwesend, sogar Lasse und seine Jungs arbeiteten fleißig, ohne dass diesmal Eifersüchteleien aufkamen. Alles andere wäre für Nils‘ Stimmung nicht eben förderlich gewesen. Trotz des inneren Frustes setzte er eine gelassene Miene auf und nach gut zwei Stunden sah die Halle wieder tipptopp aus.

Nils ließ sich gerade ein Wasser schmecken, als zwei Jungen angeflitzt kamen. Er erkannte sie als die Söhne von Martens Freund. Den einen schätzte Nils auf das Alter von Rebecca und Raffael, den anderen vielleicht ein bis zwei Jahre älter.

„Ich dachte, ihr könnt heute nicht kommen?“, sprach er die beiden an.

„Sind auch gleich wieder weg. Wollten dir nur schnell etwas geben. Dann geht es ab, vier Wochen L.A., yeah!“ Damit reichte der größere der beiden Jungs Nils einen Briefumschlag. Dann verabschiedeten sie sich und schon waren sie wieder weg.

Nils steckte das Kuvert ungeöffnet in die Hosentasche und trank sein Wasser aus. Anschließend machte er sich mit Rebecca und Raffael auf den Heimweg. Als Rebecca sich von ihrem Onkel verabschiedete, meinte sie nebenbei: „Vergiss den Brief nicht. Nicht, dass du ihn in die Wäsche schmeißt.“

Etwas in dieser Richtung war ihm in der Tat schon einmal passiert und er erinnerte sich nur zu gut daran, denn dadurch hätte er fast einen wichtigen Termin verpasst. Daher zog er den Brief aus der Hosentasche, legte ihn auf den Beifahrersitz und fuhr zügig nach Hause.

Nachdem er geduscht und sich umgezogen hatte, machte er es sich auf dem Sofa bequem und griff nach dem Briefumschlag. Neugierig riss er ihr auf und begann zu lesen.

Hallo Nils,

da wir gestern oder heute Morgen vergessen haben, Telefonnummern auszutauschen, hole ich das hiermit nach. Leider konnte ich sie dir nicht selbst geben, weil ich, wenn du das hier liest, schon über den Wolken Richtung L.A. bin. Die Kids kommen mit meinem Freund nach, da wir leider ihre Plätze nicht mehr in der gleichen Maschine nachbuchen konnten.

Ende November, zur Adventszeit, werden wir wieder zurück sein. Vielleicht magst du dich ja mal melden. Ich würde mich wirklich freuen.

Liebe Grüße Marten“

Unter die Zeilen hatte er seine Telefonnummer geschrieben. Nils griff nach seinem Handy und speicherte sie unter den Adressen. Nun hatte er die Nummer, ob er allerdings den Mut fände sich zu melden, wusste er noch nicht.

Die nächste Arbeitswoche verging wie im Fluge und ließ Nils kaum Zeit zum Luftholen. Er pendelte nur zwischen Zuhause und Arbeit hin und her, zweimal mit dem Umweg über den Supermarkt. Martens Brief hatte er bald vergessen. Erst als am darauf folgenden Sonntag Raffael und Rebecca vorbeikamen, um ihn zum Kino abzuholen, wurde er wieder daran erinnert.

Kaum dass die Wohnungstür geschlossen war, sprach Rebecca ihn mit verärgerter Miene auf den Brief an: „Du hast dich noch gar nicht bei Marten gemeldet.“

Nils schaut sie etwas irritiert an und murmelte: „Hatte noch keine Zeit.“

„Nicht mal um eine SMS zu verschicken? Was wohl kaum sein kann, denn uns hast du ja auch welche geschrieben.“

„Es war eben viel los. Dir und Raffael hab ich unter der Woche auch keine geschickt, sondern erst gestern ein oder zwei. Und außerdem, was soll das werden? Muss ich euch jetzt schon Rechenschaft darüber ablegen, wem ich schreibe und wem nicht?“

Rebecca verzog nachdenklich das Gesicht und meinte dann etwas freundlicher: „Er hätte sich bestimmt gefreut.“

Nils fragte: „Wieso weiß du eigentlich, dass ich ihm nicht geschrieben habe?“

„Na, von Joachim, mit dem schreiben und skypen wir doch jeden Tag. Ist übrings echt cool da drüben“, entgegnete Raffael und Nils gab darauf nur ein Brummen von sich.

„Wieso hast du dich nicht gemeldet? Das mit keine Zeit, das glaube ich dir nicht“, murrte seine Nichte.

Manchmal fragte er sich wirklich, woher Rebecca nur immer ihren siebten Sinn hatte, oder warum sie Zwischentöne so gut auffangen konnte.

„Ich wollte … also … na ja, irgendwie … ich weiß auch nicht. Er hat doch einen Freund. Da wollte ich mich nicht einfach dazwischen stecken.“

„Du hast doch auch Freunde, Sascha zum Beispiel.“

„Klar habe ich Sascha, aber der hängt doch immer im Keller bei der Sissi herum und haut auf der Tastatur herum. Den sieht man ja fast gar nicht mehr. Und außerdem: Ich meinte keinen platonischen Freund.“

„Was hält dich dann davon ab? Robert und Marten sind doch nur Freunde, genauso wie du und Sascha oder auch Holger.“

Sie waren nur Freunde, so langsam sickerte diese Erkenntnis auch zu Nils durch und brachte ihn leicht zum Grinsen. „Na ja, vielleicht melde ich mich heute Abend bei ihm“, war alles, was Nils noch dazu sagte, dann zog er sich schnell Schuhe und Jacke an und sie machten sich auf den Weg ins Kino.

Nach dem Kino waren sie essen gegangen und Nils hatte die beiden natürlich noch nach Hause gefahren. Nun saß er im Wohnzimmer, mit dem Handy in der Hand und wusste nicht, was er schreiben sollte. Er kam sich wie ein Teenie vor. Sollte er zugeben, dass er sich nicht gemeldet hatte, weil er glaubte, Marten hätte einen festen Freund und Familie, oder sollte er das einfach übergehen? Er war nicht feige und deshalb schrieb er Marten schließlich, warum er so lange gezögert hatte, sich bei ihm zu melden. Hoffentlich musste er auf eine Antwort nicht lange warten. In L.A. war es gerade erst Mittag. Schon kurz darauf gab sein Handy den Signalton, dass eine SMS eingegangen war. Ein Lächeln huschte über Nils Gesicht, sie war von Marten.

Sie schrieben noch einige SMS hin und her und Nils musste sich eingestehen, dass er lieber Martens Stimme gehört hätte. Allerdings wichen sie irgendwann doch auf ihre Accounts bei Facebook aus, weil das Schreiben auf diesem Wege einfacher war und somit erfuhr Nils auch nebenbei den Nachnamen von Marten und umgekehrt.

Beim Verabschieden verabredeten sie sich für den nächsten Tag zur gleichen Zeit. So ging es einige Tage, bis Nils‘ Wunsch, Martens Stimme endlich wieder zu hören, und sei es auch nur am Telefon, immer größer wurde. Deshalb machte er den Vorschlag, doch einfach zu skypen, was auch den Vorteil hatte, dass er Marten endlich einmal ohne Schminke sehen konnte, zumindest hoffte er darauf. Was er schließlich zu sehen bekam, war in der Tat alles andere als übel. Gut, er hatte auch nichts anderes erwartet, denn selbst durch die Schminke an Halloween war zu erkennen gewesen, dass Marten ein wirklich schöner Mann war.

Er hatte graue Augen, die von langen Wimpern umrandet waren. Die Augenbrauen waren sehr markant, eher grade als geschwungen. Die Farbe seiner Haare war der absolut Knaller, irgendetwas zwischen Kupfer und Mahagoni. Sie reichten ihm bis über die Schultern und waren zu einem Zopf gebunden. Dass Nils überhaupt erkennen konnte, wie lang die Haare waren, lag einzig daran, dass sich einige Strähnen aus dem Haarband gelöst hatten. Nils‘ Haare waren inzwischen auch um einige Millimeter nachgewachsen. Mehr war nach zwei Wochen nicht zu erwarten gewesen.

Eines Abends bekam Nils echte Probleme. Als Marten das Gespräch annahm, trug er nicht mehr als ein Handtuch um die Hüften und das Wasser perlte noch von seiner glattrasierten Brust. Der Anblick ließ Nils schwer schlucken.

„Bin gleich da, ziehe mir noch schnell was an!“, kam es von Marten und schon war er verschwunden.

Nils hätte beinahe „brauchst du nicht“ gerufen, verkniff es sich aber. Himmel, wie sollte er denn jetzt mit Marten normal reden, ohne an diesen Anblick zu denken? Was für ein Wahnsinnskörper. Nach anfänglichen Konzentrationsschwierigkeiten wurde es dann doch noch ein sehr schönes Gespräch. Mittlerweile hatten sie sich schon viel voneinander erzählt und Nils konnte kaum glauben, dass sie einander erst seit drei Wochen kannten und davon erst seit zweien miteinander redeten.

Martens erregender Anblick verfolgte Nils bis in seine Träume: Der schlanke sportliche Oberkörper, die Wassertropfen, die an ihm herunterliefen und jeder einzelne von ihnen lud zum Ablecken ein. Nils konnte nicht widerstehen. Mit der Zunge leckte er die Tropfen um die rechte Brustwarze weg. Diese kleinen festen Nippel lockten so sehr, er musste sie einfach mit den Lippen umschließen, nachdem seine Zunge vorher einige Male über sie gestrichen war. Marten schnurrte vor Vergnügen, was Nils mit Genuss fortfahren ließ. Seine Zunge wanderte hinüber zu dem anderen Nippel, der auch verwöhnt werden wollte. Nachdem Nils das erledigt hatte, widmete er sich den festen, leicht angedeuteten Bauchmuskeln. Er blickte auf und sah, dass Marten den Kopf voller Erregung weit zurückgebogen hatte. Dann senkte er den Blick, erreichte Martens Bauchnabel und tauchte mit seiner Zunge darin ein.

Nun legte Marten seine Hände um Nils‘ Kopf und zog ihn zu sich nach oben. Mit geöffneten Lippen und unruhigem Atem standen sie einander gegenüber und schauten sich an, als warteten beide auf ein Zeichen des anderen. Nils‘ Blick glitt von Martens grauen Augen zu dessen Lippen, die ihn einfach zum Küssen einluden. Er legte Marten eine Hand in den Nacken, zog ihn heran und ihre Lippen trafen sich. Es war kein zärtlicher langsamer Kuss, nein, er war wild und leidenschaftlich. Ihre Zungen umkreisten einander, erforschen lustvoll den Mund des anderen. Marten schob Nils aus dem Zimmer, in dem sie sich befanden, dirigierte ihn weiter, wohl Richtung Schlafzimmer. Immer wieder blieben sie stehen und küssten sich. Hände strichen gierig über heiße Körper. Wenn Nils Kleidung getragen hatte, so war die plötzlich weg, wie und warum, war ihm egal, er wollte nur noch Martens Haut an seiner spüren. Martens Handtuch, welches er um die Hüften getragen hatte, war auf dem Weg zum Schlafzimmer auch abhandengekommen.

Als sie endlich am Bett angekommen waren, ließen sie sich darauf fallen. Nun wurde Nils von Marten mit dem Mund verwöhnt. Martens Lippen, Zunge und auch seine Zähne, leckten, knabberten und neckten an Nils‘ Hals über dessen Brust unaufhaltsam abwärts. Nils spürte Martens Hand über seine Riesenerektion streichen, um sie hart zu umschließen. Dabei hörte Nils ein: „Piep, piep, piep, piep!“ Es fühlte sich so gut an, erst recht, als Marten seine Lippen über die pralle Eichel stülpte. „Piep, piep, piep, piep!“ Nils stöhnte, aber wieder war nur ein „Piep, piep, piep, piep“ zu hören. Und langsam sickerte es bei Nils durch, dass es sein Wecker war, der das seltsame Geräusch verursachte. Ohne die Augen zu öffnen und zutiefst frustriert, weil er auf so herbe Art und Weise gerissen aus seinem Traum wurde, machte er dem Gepiepe mit einem energischen Schlag ein Ende. Seine Morgenlatte führte ihm schmerzlich vor Augen, dass sich alles nur in seiner Fantasie abgespielt hatte und er sich nun selbst um sein Problem kümmern musste.

Nachdem er dies unter der Dusche erledigt und sich für die Arbeit angezogen hatte, ging er in die Küche, machte sich einen Kaffee und kramte aus einem Schrank ein paar Muffins hervor. Damit setzte er sich an den Küchentisch und begann zu essen. Ihm kam der Gedanke, wie schön es wäre, wenn Marten jetzt hier wäre und sie zusammen frühstücken könnten. „Vielleicht nur ein schöner Traum, allerdings würde es mir sehr gefallen“, murmelte er vor sich hin.

Die nächsten Abende hatte er leider nicht viel Zeit, mit Marten zu skypen, weil einige Aufträge unbedingt erledigt werden mussten. Nils merkte, dass Marten ihm dadurch nur noch mehr fehlte.

Dabei war es doch eigentlich verrückt. Sie hatten kaum mehr gemacht, als miteinander zu reden und trotzdem fühlte Nils sich Marten um vieles stärker verbunden, als er es bis jetzt bei irgendeinem anderen je gespürt hatte. Nur noch einige Tage, dann würde Marten zurück sein.

Endlich war Sonntag und in zwei Stunden würde das Flugzeug mit Marten an Bord landen. Nils war ganz aufgeregt, konnte sich auf kaum etwas konzentrieren. Anstatt bei dem Gespräch mit Rebecca und Raffael, war er in Gedanken am Flughafen und nahm Marten im Empfang. Allerdings wusste er nicht, wie er sich genau verhalten sollte. Er schwankte zwischen ihn in die Arme reißen und abknutschen und freundschaftlich umarmen. So bekam er auch die Frage nicht mit, die Rebecca ihm gerade stellte.

„Nils! Hörst du mir mal zu!“

„Was, wie, wo? Was wolltest du?“, fragte er und schüttelte den Kopf in der Hoffnung, dann endlich wieder klarer denken zu können.

„Ich habe dich gefragt, wann du es ihm endlich sagst.“

„Sagen? Was sagen?“

„Dass du bis über bei Ohren in ihn verschossen bist. Seit ein paar Tage ist es mehr als offensichtlich, so abwesend wie du immer bist.“

„Weiß ich noch nicht. Frag mich doch nicht so was Schweres.“

Rebecca fing lauthals an zu lachen und Raffael stimmte mit ein und brachte nur unter Gegiggel einen weiteren Satz zustande: „So was Schweres? Onkel Nils, wie alt bist du eigentlich?“

Das fragte sich Nils auch schon seit einer ganzen Weile. Zurzeit kam er sich nicht wie fast Vierzig vor, sondern eher wie vierzehn.

„Weiß ich zurzeit wirklich nicht“, gab Nils leise von sich. „So ist es mir bis jetzt noch nie gegangen. Das fühlt sich alles so neu an, aber dennoch verdammt gut.“

Rebecca schüttelte den Kopf, grinste ihren Onkel an. Nils streckte ihr daraufhin die Zunge heraus. Er wusste doch selbst, dass er sich völlig kindisch benahm, und was noch schlimmer war, er konnte es auch nicht abstellen.

Nils sah auf die Uhr und meinte: „Ich muss los, bis später oder so“ und verließ eilig seine Wohnung. Dass Raffael und Rebecca sich vor Lachen kringelten, bekam er gar nicht mit.

 

Im Wagen rief sich Nils zur Ordnung, denn Auto fahren und Träumen passten nun einmal nicht zusammen. Er schaffte es tatsächlich, zügig und ohne irgendwelchen Katastrophen beim Flughafen anzukommen. In der Ankunftshalle sah er auf die Anzeigetafel und stellte fest, dass der Flug gerade als gelandet markiert worden war. Nun würde es nur noch eine kleine Weile dauern.

Als es denn endlich soweit war und die ersten Passagiere erschienen, reckte Nils den Kopf, um zu schauen, ob er Marten mit Robert und den Kindern entdecken konnte. Und dann sah er einen kastanienfarbenen Haarschopf aus dem ganzen Gewusel hervorleuchten. Robert und seine Söhnen folgten, aber Nils hatte nur Augen für Marten.

Als Marten ihn ebenfalls entdeckte, begann er sofort zu lächeln und das ließ in Nils‘ Magen einen riesigen Schwarm von Schmetterlingen aufsteigen. Er überlegte immer noch, was er nun tun sollte und am Ende tat er doch das, was sein Bauch sagte und nicht sein Kopf: Er nahm Marten ganz fest in die Arme. „Schön, dass du wieder da bist.“

Marten ließ einfach seinen Koffer fallen und erwiderte die Umarmung. Nach einer Weile gaben sie einander wieder frei. Sie sagten nichts, sondern grinsten nur verlegen. Nils wandte sich Robert und den Jungs zu und begrüßte sie, allerdings nur mit Handschlag.

 

Schnell war geklärt, dass Robert mit seinen Söhnen ein Taxi nehmen würde und Marten mit Nils fuhr. Allerdings war nicht abgesprochen, wohin es gehen sollte. Deshalb fragte Nils nach.

„Eigentlich zu Robert, allerdings würde ich vorher gerne zu mir fahren, auch wenn ich nicht glaube, dass da noch viele Möbel stehen werden.“

Nils schaute ihn ziemlich verständnislos an, weshalb Marten es dann auch erklärte: „Ich habe bis vor zwei Monaten mit meinem Freund zusammen gewohnt und jetzt ist er mein Ex-Freund. Na ja, und ich hatte ihm bis ich aus L.A. zurück bin Zeit gegeben, die Wohnung zu räumen. Weil er meistens alles sehr wörtlich nimmt, gehe ich davon aus, dass nur noch meine Klamotten und einige persönliche Sachen da sein werden und er den Rest mitgekommen hat.“

Nils riss die Augen auf. „Und das lässt du dir so gefallen?“

„Sagen wir mal, so ist es das kleinere Übel, als wenn ich ihn aus der Wohnung klagen müsste. Ich bin froh, wenn er endlich aus meinem Leben verschwindet.“

Nach der Erklärung konnte Nils das Ganze zumindest etwas verstehen, auch wenn er selbst wohl anders reagiert hätte. Sie fuhren also zu der von Marten genannten Adresse. Als sie ankamen, staunte Nils nicht schlecht, denn das Haus, vor dem sie hielten, war kein Mehrfamilienhaus, sondern ein kleines Einfamilienhaus aus den Sechzigern, richtig schön zurechtgemacht. Außerdem schien es ein großer Garten dazu zu gehören, wie man von der Straße aus erahnen konnte.

Marten atmete einmal tief durch, stieg aus und Nils folgte ihm. Er wollte ihn nicht alleine lassen. Marten griff in die Hosentasche, holte seinen Hausschlüssel heraus und schloss nach kurzem Zögern auf. Als sie eintraten, schlug ihnen ein muffiger Geruch entgegen, der alles andere als angenehm war. Der Flur war schon mal möbelfrei. Es lag Kleidung auf dem Boden, die sicherlich Marten gehörte, dachte Nils bei sich. Sie gingen weiter, links war ein kleines Bad mit Dusche. Gegenüber war das Wohnzimmer, darin waren auch keine Möbel mehr zu finden. Als nächstes kam die Küche mit angeschlossenem Esszimmer und da hatten sie auch die Ursache für den muffigen Geruch im Haus, denn der Raum war leer und der Abfluss nicht abgedeckt worden.

„Oben wird es nicht anders aussehen als hier. Lass uns irgendwie den Abfluss zustopfen und morgen sehe ich weiter. Möbel muss ich wohl auch kaufen gehen.“

„Wie kannst du nur so ruhig sein?“ Nils war etwas irritiert, dass Marten alles so gelassen hinnahm.

Marten erwiderte gelassen: „Die Möbel wären so oder so rausgeflogen, da wir sie damals zusammen ausgesucht haben und ich mit Sicherheit nicht ständig an ihn erinnert werden möchte. Mit dem Haus ist das kein Problem, das gehörte meiner Oma und daran hängen mehr schöne Erinnerungen an meine Kindheit, als an die gemeinsame Zeit mit Tanjef.“

„Es ist wirklich ein schönes kleines Haus“, meinte Nils, ging zur Terrassentür und schaute in den Garten.

Dort standen zwei Obstbäume, welche Sorte konnte er nicht erkennen. Das Areal war schön angelegt; es gab kleine ordentliche Beete und sorgfältig gestutzte Büsche. Sogar ein kleiner Teich mit Wasserfall war da.

„Das sieht hier echt traumhaft aus“, sagte er ganz leise. Ihm gefiel es hier, besser als in seiner Wohnung in der Stadt, das konnte er nicht leugnen.

Marten stellte sich neben ihn und ihre Arme berührten sich. Ohne darüber nachzudenken, nahm Nils Martens Hand und hielt sie fest. So blieben sie eine ganze Weile stehen. Schließlich stiegen sie doch noch die Treppe ins obere Stockwerk hinauf. Hier lagerten in Kartons und zwei Wäschekörben Martens restliche Sachen.

„So, und wohin darf ich dich jetzt fahren? Zu Robert, oder magst du …“ Nils schluckte und fuhr dann fort, „… mit zu mir kommen?“

„Mit zu dir.“ Marten ließ Nils‘ Hand los und suchte aus einem Karton ein paar alten Socken und ein Kondompäckchen hervor. Anschließend lächelte er Nils an, reichte ihm wieder die Hand und sie gingen nach unten. In das Abflussrohr in der Küche stopfte er die Socken. Dann holte er ein Kondom aus seiner Umhüllung und zog es über den Abfluss.

„Wusste gar nicht, dass man es dafür auch benutzen kann“, sagte Nils verwundert.

„Dicht sollten die doch sein, oder? Von daher sollte es passen.“

 

Sie verließen das Haus, schlossen ab und machten sich auf zu Nils Wohnung. Der Parkplatzgott schien ein Einsehen zu haben, denn genau vor dem Haus war tatsächlich mal eine Lücke. Sie nahmen Martens Koffer und gingen hoch in Nils Wohnung, in der es gemütlich warm war. Draußen wehte mittlerweile ein kalter Wind. Nils nahm Marten den Koffer ab und stellte ihn ins Gästezimmer, nachdem er Marten gebeten hatte, schon mal weiter ins Wohnzimmer zu gehen. Er wollte noch aus der Küche etwas zu trinken holen, als im Vorbeigehen sein Blick ins Esszimmer fiel. Nils traute seinen Augen nicht.

„Ach, du kriegst die Motten!“, entfuhr es ihm und Marten, von dem Ausruf angelockt, kam hinzu. Nils merkte, dass ihm ziemlich heiß im Gesicht wurde, denn das hier übertraf wirklich alles, was er selbst für den heutigen Tag geplant hatte.

Der Tisch war wie für ein romantisches Candlelight-Dinner gedeckt worden. Neben einer verführerisch angerichteten Platte mit Antipasti stand eine Rotweinkaraffe.

„Ähm, ja also, hast du Hunger? Wie es scheint, ist bereits serviert.“

„Oh ja, ich hab tierischen Kohldampf. Oh, und wie ich sehe, sind sogar einige meiner Leibspeisen dabei. Welches Vögelchen hat dir denn das gezwitschert?“

„Da fallen mir im Moment nur vier ein, die die Köpfe zusammen gesteckt haben könnten.“ Nils musste schmunzeln.

Marten grinste nun auch, setzte sich und meinte: „Na komm, Nils, lass uns essen. Die vier haben sich doch so viel Mühe gegeben.“

Da musste Nils ihm Recht geben und außerdem hatte auch er Hunger. Die Speisen waren ein Gedicht und während sie aßen, unterhielten sie sich angeregt, der Gesprächsstoff ging ihnen einfach nie aus. Nach dem Essen räumten sie gemeinsam auf. Sie nahmen den restlichen Wein mit ins Wohnzimmer und machten es sich auf dem Sofa bequem. Nach Reden war ihnen allerdings nicht mehr, denn nach dem Essen und dem Wein fühlten sie sich so richtig bettschwer, wollten aber noch nicht auseinandergehen.

Schweigend hingen sie auf der Couch, die Gesichter einander zugewandt. Nils hob irgendwann die Hand und strich Marten zärtlich mit dem Daumen über die Wange. Marten tat das Gleiche bei Nils. Sie sagten nichts, schauten sich nur an und streichelten einander. Marten beugte sich etwas vor und legte seine Lippen hauchzart auf die von Nils. Diese Berührung versetzte in Nils‘ Bauch einen gewaltigen Schwarm Schmetterlinge in Aufruhr. Der Kuss war einfach zu gut, wenn sich auch nur ihre Lippen ganz sachte berührten. Nach scheinbar endlos langer Zeit lösten sie ihre Münder voneinander und sahen sich an.

„Das wollte ich schon machen, als ich dich damals auf der Halloweenfete im Jugendtreff gesehen habe“, verriet Marten leise.

„Und wieso hast du es nicht getan? Ich hätte mich sicherlich nicht gewehrt.“

„Ich glaube, da war es noch nicht der richtige Zeitpunkt. Jetzt aber ist es so weit.“

„Hmmm, ich glaube du hast recht. So ist es mehr als nur ein Kuss.“

Da war sich Nils ganz sicher. Auf der Halloweenfete wäre es nur Spaß gewesen. Nun allerdings, nachdem sie während der vergangenen vier Wochen so viel miteinander gesprochen und geschrieben hatten, war es eindeutig anders. Nils fühlte sich nicht mehr rein triebgesteuert. Klar, er wollte immer noch Sex mit Marten, das stand aber nicht mehr im Vordergrund. Er wollte den ganzen Menschen Marten in seinem Leben haben und das am besten für immer. Bei dieser Erkenntnis schlang Nils die Arme um Marten und zog ihn fest an sich. „Dich geb ich nie wieder her“, nuschelte er ganz leise.

Ob Marten ihn verstanden hatte, konnte er nicht sagen, doch als Marten sich noch mehr in seine Arme kuschelte, war das wohl Antwort genug.

 

Die Adventszeit verging ziemlich schnell, denn nachdem Martens Haus nun leer stand, kam er auf die Idee, das Gebäude komplett zu modernisieren und umzubauen. Bei dem, was alles gemacht werden musste, fragte sich Nils, ob es nicht einfacher gewesen wäre, das Haus abzureißen und anschließend neu zu bauen. Allerdings verkniff er sich eine dahingehende Äußerung, denn er hatte schon bemerkt, dass Marten an dem Haus hing. Außerdem hatte die Renovierung auch einen Vorteil: Marten blieb erstmal bei ihm wohnen, was Nils sehr genoss. Irgendwie schmeckte Nils der Gedanke nicht, dass Marten nächstes Jahr, sobald es fertig war, wieder in sein Haus ziehen wollte. Er wollte nicht mehr alleine leben, jetzt noch weniger als früher.

Weihnachten, das sich dieses Jahr ziemlich kompliziert gestaltete, kam. Vor der Zeit mit Marten war klar, dass Nils bei seinem Bruder und dessen Familie feierte. Jetzt waren da, außer Marten, noch Robert und dessen Kinder. Also mussten die Festtage aufgeteilt werden: Heiligabend war für Marten und ihn reserviert, der erste Feiertag für Nils‘ Familie und am zweiten Weihnachtstag ging es dann zu Robert, dem besten Freund von Marten.

 

Am ersten Weihnachtstag kamen Marten und Nils zur Mittagszeit bei Knut und seiner Familie an. Rebecca öffnete und fiel ihnen nacheinander um den Hals. Raffael, der auch mit zur Tür gekommen war, reichte beiden nur die Hand, wobei er allerdings ziemlich grinste. Mit den Geschenkpäckchen bewaffnet, gingen sie ins Wohnzimmer, wo sie von Knut und Beate begrüßt wurden. Im ganzen Haus roch es lecker nach Apfelrotkohl und Gänsebraten.

Nach dem Essen saßen sie um den Couchtisch herum und unterhielten sich. Marten strich immer wieder ganz in Gedanken durch Nils‘ Haar, das seit der Halloweenparty bereits ein gutes Stück nachgewachsen war.

Plötzlich ergriff Rebecca das Wort: „Nils, was machst du an Silvester?“

„Urlaub“, war die prompte Antwort und dabei schaute er Marten an.

„Hmmmm, dann hast du ja Zeit und kannst auf der Silvester-Kostümparty im Jugendtreff aushelfen, oder?“, fragte Rebecca mit schelmischen Grinsen.

„Kostümparty? Und welches Kostüm soll es diesmal sein?“, erwiderte Nils.

„Na, welches wohl? Das von Halloween natürlich!“

Bevor Nils antworten konnte, sagte Marten ganz ruhig, aber bestimmt: „Erstens bleiben Nils‘ Haare dran und zweitens sind wir zu Sylvester gar nicht hier.“

Rebecca riss die Augen auf und sah sichtlich geschockt aus. Raffael dagegen grinste nur und meinte: „Ich hab es dir doch gesagt, Schwesterchen. Auf Nils müssen wir von jetzt an verzichten.“

„Ja, hast du, allerdings hatte ich gehofft, ihn dann und wann noch einspannen zu können und außerdem ist er uns noch was schuldig.“

Nils horchte auf. „Was bin ich euch denn, bitte, schuldig?“

„Ohne uns wäre Marten damals doch gar nicht auf der Party gewesen und du übrigens auch nicht.“ Sie grinste ihn frech an.

Nils und Marten schauten sich an, mussten ebenfalls grinsen und meinten dann nur: „Danke.“

„Können wir euch nicht doch überreden, zu kommen?“

„Nein, keine Chance, wir fahren für zwei Wochen in den Urlaub. Danach wird Martens Haus eingerichtet und dann …“ Nils geriet ins Stocken und Marten vollendete den Satz: „… zieht Nils zu mir und seine Wohnung steht leer.“

„Kann ich dann da einziehen?“, fragte Raffael sofort.

„Nein ich glaube nicht“, entgegnete Marten ganz ruhig. „Denn die bekommt jemand anderes, jemand, der dringend einen Neuanfang braucht.“

Nils war völlig perplex. Anscheinend hatte sein Freund hinter seinem Rücken schon alles geplant. An dem Funkeln in Martens Augen erkannte er, dass der die Überraschung genoss. Finger drückten seine Hand ganz fest.

„Freust du dich?“, versicherte Marten sich flüsternd.

Er nickte. „Das ist mein schönstes Geschenk. Aber … wen hast du für meine Wohnung vorgesehen?“

„Robert, Joachim und Jürgen. Ihre alte Wohnung birgt zu viele traurige Erinnerungen.“

Nils‘ Familie hielt sich vornehm zurück und ließ sie ein wenig tuscheln, bis alles geklärt war.

Irgendwann kam nochmal das Thema Silvesterfete zur Sprache. Nils und Marten hatten die Idee, dass sie Robert verpflichten könnten und dann mussten sie plötzlich weg und meinten nur, sie hätten noch ganz viel zu planen. Was dabei herauskäme, würde man erleben, irgendwann, ganz sicher.

Es folgte der zweite Weihnachtstag bei Robert und seinen Jungs, anschließend ging es in den Urlaub. Nils hatte sich extra in die Höhle der Löwin gewagt, an Sissi vorbeigeschlichen und Sascha in seinem doch recht ansprechenden Kellerverlies besucht, da er eine Idee brauchte, wohin er mit Marten fahren konnte. Sascha meinte sofort, dass er es doch mal auf Amrum versuchen sollte. Da würde es die eine oder andere nette Pension geben. Außerdem gab es dort an Silvester kein Feuerwerk, wegen der vielen Strohdächer. Sascha hatte gegrinst, weil er Nils‘ Angst vor Böllern und Feuer kannte. Ein wenig Spott tat einer Freundschaft wie der ihrigen keinen Abbruch, daher war Nils auf die Provokation nicht eingegangen, hatte sich bedankt und den Keller verlassen.

Marten war sehr einverstanden mit dem Vorschlag, suchte sofort im Internet eine Unterkunft und buchte für sie ein Appartement. Eine Pension lehnte er ab, wegen der Privatsphäre, meinte er mit einem sexy Grinsen.

Und dann machten sie sich auf den Weg in ein neues Jahr und ihr gemeinsames Leben.

 

Ende

Impressum

Texte: Ragna Ida Ziegel
Bildmaterialien: Ziggeli
Lektorat: Meine helfenden Elfen
Tag der Veröffentlichung: 01.10.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Gewidmet den zwei helfenden Elfen, die dann schon wissen wer gemeint ist.

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