von Martina Hoblitz
„Darf ich kurz in Ihren Garten und unsren Blacky aus Ihrem Baum holen?“
Diese Frage des Mannes mit einer geschulterten Leiter, der vor ihrer Haustür stand, als sie auf sein Läuten öffnete, verwunderte Silke nicht besonders. Hatte sie doch vom Küchenfenster aus eben noch beobachtet, wie eine kleine schwarze Katze auf der Jagd nach Spatzen in den höchsten Wipfel des alten Birnenbaums kletterte und nun maunzend dort saß und nicht mehr runter fand.
„Ich heiße übrigens Benedikt Spatz und bin Ihr neuer Gartennachbar“, stellte sich der Mann vor, ehe er ums Haus herum ging; nicht ohne Silke vorher mit einem leichten Stirnrunzeln von Kopf bis Fuß zu mustern.
Es war ihr gar nicht recht bewusst, welchen Anblick sie bot, dass sie am späten Vormittag noch im Bademantel, offen über einem knappen Nachthemd, herum lief, ungewaschen, ungekämmt und eigentlich noch beim Frühstück.
Silke kehrte, nachdem sie die Haustür geschlossen hatte, gelassen zurück in die Küche und sah durchs Fenster, wie Benedikt die Leiter auseinander schob, an den Baum lehnte, rasch hinauf stieg, sich die Katze schnappte und sie, als er wieder unten war, einfach über den Zaun in den angrenzenden Garten hob.
Dort rief ein Junge im Schulalter nach ihr, und das Tierchen eilte schnurstracks in seine Arme.
Als Benedikt Anstalten machte, die Leiter wieder zusammen zu klappen, öffnete Silke schnell das Fenster und rief ihm zu: „Lassen Sie doch die Leiter ruhig stehen! Bald sind die Birnen reif, und Sie dürfen sie gern für sich pflücken. Ich brauch für mich alleine nur 'ne Handvoll. - Übrigens, ich heiße Silke Wagner.“
Unterdessen hatte Benedikt die Leiter doch zusammen geschoben, auf seine Schulter gehoben und kam näher, wobei er sagte: „Danke, aber ich komm dann später wieder. Ich brauch die Leiter erst für meine Bäume, die Äpfel und Pflaumen sind nämlich schon reif. - Und dann möchte ich mich noch entschuldigen. Falls es Ihnen noch nicht aufgefallen ist, dass Ihre Himbeerhecke am Zaun geplündert wurde, das waren nicht die Vögel, sondern mein Neffe Ralf. Der Bengel verbringt seine Ferien bei mir, während mein Bruder mit Frau auf Geschäftsreise ist. Und er hat nur Unsinn im Kopf.“
Silke konnte sich nicht erklären, warum sie so erleichtert war, dass es sich bei dem Jungen „nur“ um den Neffen handelte. Jedenfalls reagierte sie mit offensichtlicher Begeisterung auf Benedikts folgende Einladung: „Wir wollen heute Abend grillen. Möchten Sie nicht dazu kommen? Dann können wir auf eine gute Nachbarschaft anstoßen.“
„Ja, sehr gerne!“
Sie lächelten sich strahlend an, bevor er ums Haus herum verschwand.
ENDE
Texte: eigener Text verfasst Januar 2023
Cover: by pixabay
Tag der Veröffentlichung: 09.01.2023
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