Das geheimnisvolle Bild
Lange stand Susanne am Fenster und blickte in der Dämmerung auf den großen Obstgarten. Wie vertraut war ihr das alles plötzlich wieder. Obwohl sie damals, als ihre Mutter und sie diesen Ort für immer verlassen hatten, noch ein kleines Mädchen gewesen war. Und doch hatte sie den Streit zwischen ihrem Großvater und seiner Tochter schon wahrgenommen. Es waren böse Worte gefallen. Und immer wieder der Name Elisabeth.
Nun war der Großvater tot. Schon über ein Jahr. Aber erst jetzt hatte man sie als Erbin ausfindig gemacht. Ihre Mutter war schon vor Jahren bei einem Autounfall in Amerika um`s Leben gekommen. Susanne hatte ihren Weg gemacht. Ihr Beruf führte sie in inzwischen um die halbe Welt. Als das Schreiben vom Tode ihres Großvaters sie erreichte, hatte sie zunächst nur ein leises bedauern empfunden. Schließlich hatte sie diesem Mann die schönsten Jahre ihrer Kindheit zu verdanken. An seiner Hand hatte sie die kleine Welt rund um das alte Haus entdeckt. Er hatte ihr die schönsten Äpfel von seinen Bäumen gepflückt und sogar eine Schaukel aufgehängt, mit der sie bis hinauf in den blauen Himmel fliegen konnte. So kam es ihr wenigstens vor.
Jetzt sollte das alles hier ihr gehören. Heute Morgen war es amtlich geworden. Doch was sollte sie tun? Sie beschloß erst einmal eine Nacht darüber zu schlafen. In der kleinen Kammer für Besucher stand noch immer das breite, alte Bett mit dem weichen Plumeau. Sie kuschelte sich zwischen die Federn und versuchte zu schlafen. Aber was waren das für huschende Schatten vor dem Fenster? Auch das knarren im Gebälk war ihr nicht mehr vertraut. Und schließlich das gepolter auf der Bodentreppe. Tapp, tapp, tapp. wer hatte sich da oben versteckt gehalten? Eiskalt kroch es in ihr hoch und selbst die kleinsten Härrchen sträubten sich. Plötzlich Stille. Noch eine Weile lag sie zitternd da, dann übermannte sie doch noch der Schlaf der Erschöpfung.
Am nächsten Tag öffnete sie vorsichtig die Türe zum Boden. Und mußte hellauf lachen. Da lag doch tatsächlich am Fuße der Treppe eine Mausefalle mit Inhalt. Die arme Maus hatte wohl noch eine Weile um ihr Leben gekämpft. Als sie schließlich am alten Küchentisch saß konnte sie sich auch die Schatten der Nacht erklären. Draußen ging noch immer ein heftiger Wind. Und die Schatten waren wohl die wehenden Zweige der Bäume gewesen. Susanne seufzte erleichtert auf. Aber noch immer war sie zu keiner Entscheidung gekommen. Sie nahm sich vor, nach dem Frühstück den alten Sekretär des Großvaters zu durchstöbern. Was sie dann auch tat.
Einige alte Rechnungen, Quittungen über Obstverkäufe und dann eine Schachtel voller Bilder. Liebevoll betrachtete sie diese. Auf einem Bild war sie plantschend in einem kleinen Weiher zu sehen. Richtig, den Weiher gab es ja auch noch. Er mußte sich hinter dem Haus befinden. Im Moment erregte ihre Aufmerksamkeit allerdings ein zweites Kind auf dem Bild. Das Gesicht war nicht zu erkennen. Aber es mußte etwas älter sein. Überhaupt war das Foto so aufgenommen, als ob dieses zweite Mädchen nur eine untergeordnete Rolle spielte. Aber sie erinnerte sich plötzlich. An dieses Mädchen mit seinem unwiderstehlichem Lachen und seiner liebesuchenden Art. Manchmal hatte es ihr Angst gemacht, wenn sie von ihr einfach in den Arm genommen wurde. Arme die eine unkontrollierte Kraft hatten. Dann hatte sie aufgeschrieen und sofort waren Großvater oder Mutter zur Stelle. "Elisabeth" kam es im scharfen Ton. Und Elisabeth hatte sie verstört angeschaut.
Elisabeth? Wer war Elisabeth und was war aus ihr geworden? Susanne durchsuchte den Sekretär mit neu erwachtem Interesse. Bis sie auf ein Bündel Briefe stieß. Briefe ihrer Mutter. Gespannt las sie den ersten der ihr in die Hände fiel.
"Lieber Vater, ich konnte nicht anders handeln. Ich will wenigstens einem meiner Kinder eine Zukunft geben. Elisabeth ist bei dir besser aufgehoben. Die Welt außerhalb würde sie nur erschrecken. Mir selber ist diese Welt zu eng geworden. Paß gut auf Elisabeth auf." In weiteren Briefen erzählte ihre Mutter stolz von ihren Erfolgen als Managerin eines großen amerikanischen Konzerns. Aber nie mehr ein Wort über Elisabeth.
Am Nachmittag suchte Susanna nochmals den Anwalt auf. Aber auch er wußte nichts über den Verbleib ihrer Schwester. Hatte der Großvater sie in ein Heim gegeben? Oder war sie inzwischen verstorben? In der nächsten Nacht wälzte sie sich unruhig in dem großen Bett hin und her. Manchmal vermeinte sie ein leises Klagen zu hören. Oder war es der Wind der durch das alte Gebälk fuhr? Sie mußte Elisabeth finden. Tot oder lebendig.
Der Urlaub neigte sich langsam zu Ende und Susanna hatte sich entschieden. Es war eine zu große Belastung dieses Anwesen zu halten. Es brauchte alles seine Pflege. Also verkaufen. Doch zuvor wollte sie noch einmal die persönlichsten Sachen ordnen. Bei einem Gang durch das Haus gelangte sie auch auf den Boden. Zunächst hatte sie gezögert. Aber lagerten nicht oft gerade dort die wahren Schätze? Die Treppe knarrte unter ihren Schritten. Mit der Hand schob sie angewidert einige Spinnweben zur Seite. Ein seltsamer Geruch empfing sie. Dort hinten stand das alte Sofa, das immer Mittelpunkt der Guten Stube gewesen war. In ruhigen Stunden hatten sie mit der Mutter dort gekuschelt. Ganz plötzlich verhielt sie den Schritt. Was sie dort sah, sie konnte es nicht glauben. Dort saß eine stark verweste Leiche und hielt einen Teddy im Arm. Ihren Teddy, den sie damals vergessen hatte.
Nach eingehenden Untersuchungen und Nachforschungen wurde die Identität des bzw. der Toten festgestellt. Es war wohl ein Jahr her seit sie verstorben war. Damals, nach dem Tode des Großvaters, hatte sie hier Zuflucht gesucht. Das Mädchen mit dem Geist eines Kindes konnte die Situation wohl nicht erfassen. Keiner hatte sie gesucht. Denn all die Jahre war sie in ihrer kleinen Welt eingeschlossen.
Susanna lies ihre Schwester auf dem kleinen Friedhof beisetzen. Dann übergab sie das Anwesen seinem neuen Besitzer. Er wußte was hier geschehen war. Aber für ihn zählte nur der große Obstgarten mit den seltenen Apfelsorten. Im Haus wohnten nun seine Saisonarbeiter aus Polen oder Rumänien.
Alles war noch so wie damals
, als die kleine Kathie dieses Zimmer für immer verlassen hatte.
Auf dem Regal die vielen Bilderbücher aus denen die Mutter ihr jeden Abend eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen mußte. Besonders liebte Kathie die von dem kleinen Jungen, der nachts mit seinem Bettchen eine Reise am Himmel machte. "Das möchte ich auch mal" meinte Kathie mit sehnsüchtigen Augen. Doch wenn sie die traurigen Augen ihrer Mutter sah, kuschelte sie sich an diese und sagte kindlich tröstend: "Aber ich bin doch am Morgen wieder da!" Eines Tages hatte sie diese Reise angetreten. Aber ohne ihr Bettchen. Auf dem blieb ganz verloren ihr geliebter Teddy zurück. inmitten der vielen nach Lavendel duftenden Kissen. Und manchmal war es ihrer Mutter als schaue er sie traurig an. Dann war sie versucht über das weiche Fell zu streichen. Zog aber kurz davor ihre Hand zurück, als könne sie ihn damit entweihen. Schnell verlies sie das kleine Zimmer und verschloß sorgfältig die Türe.
Es war ein sonniger Frühlingstag gewesen. Einer der ersten nach einem langen Winter. Fröhlich hüpfte die kleine Kathie von einem Bein auf das andere und sang vor sich hin. Die Ungeduld endlich hinaus zu kommen, lies ihre zarte Stimmer immer lauter werden. Zunächst noch lachend versuchte ihre Mutter sie in wärmende Sachen zu packen. Doch dann mahnte sie, das Brüderchen nicht zu wecken, dass noch friedlich in seiner Wiege schlief. "Kann ich meinen Teddy mitnehmen?" kam es bittend von Kathie. Doch die Mutter schüttelte den Kopf. "Es wäre schade wenn das schöne Fell schmutzig würde. Und geh`nicht zum Bach runter." ermahnte sie noch. Kathie ging enttäuscht hinaus. Im Treppenhaus hörte man noch mal ihre Stimme. "Aber bald nehme ich mein Brüderchen mit!" Dann klappte die Eingangstüre mit einem lauten Knall zu.
Draußen begann es sich zu bewölken. Die Mutter schaute sorgenvoll zum Himmel. Jetzt wurde es Zeit, dass Kathie wieder herein kam. Sie wollte gerade auf den kleinen Balkon gehen und nach ihr rufen, als die Türglocke ertönte. Das würde sie sein. "Komm rein mein kleiner Schatz, ich werde uns...." Der Rest des Satzes blieb ihr förmlich im Halse stecken. Vor ihr stand der Nachbarsjunge mit weitaufgerissenen Augen und der ganze kleine Körper zitterte. Tränen vermischt mit dem Rotz seiner triefenden Nase liefen über das schmutzige Gesichtchen und hinterließen ihre Spuren. "Wir wollten doch nur....." "Sei still" sagte der Mann hinter ihm barsch. Er hielt ihre kleine Tochter wie eine leblose Puppe auf den Armen und aus ihren Haaren tropfte das schmutzige Wasser auf den neuen Teppich. Sie wusste nur noch das sie geschrien hatte. Immer lauter, bis sich die Schreie des erwachten Babys mit ihren vermischten und schließlich in ein wimmern übergingen.
Alles war noch so wie damals. Manchmal ging sie hinein um den Staub wegzuwischen und für eine Weile das Fenster etwas zu öffnen. Eines Tages stand der kleine Tim hinter ihr. Er schaute mit großen Augen auf den Teddybären. Und mit einem Jauchzer wollte er ihn an sich drücken. "Nein" Seine Mutter schob den verstörten Jungen zur Tür hinaus und schloss sie wieder sorgfältig ab. Täuschte sie sich, oder schauten die sonst so traurigen Augen des Bären sie von nun an ehr zornig an? Aus seinen Glaspupillen schienen förmlich Blitze zu schießen. Und manchmal glaubte sie sogar ein leises grollen zu hören.
Es war wieder eimal ein sonniger Frühlingstag. Vielleicht sogar auf den Tag genau der an dem sich alles änderte. Den kleinen Tim hatte sie zum spielen hinausgeschickt. Zwischen Garten und Bach gab es inzwischen einen Zaun. Gerade hatte sie Kathie`s Zimmer betreten, als gleichzeitig Türglocke und Telefon schellten. Hastig öffnete sie die Wohnungstüre für ihren Jungen, und eilte dann an`s Telefon. Die Stimme eines kleinen Mädchen`s meldete sich. "Mama? Mama? Ich habe Angst. Wann kommst du?" Beruhigend redete sie auf die Kleine ein. Sicherlich hatte sie sich verwählt. Da hörte sie auch schon im Hintergrund das öffnen einer Türe: "Ich bin doch da Schatz. Wo rufst du denn an?" Dann wurde die Verbindung getrennt.
Kathie`s Zimmertüre stand weit offen. Sie wollte sie gerade zu ziehen, als ihr Blick auf das Bett fiel. Der Teddy war verschwunden. Auf den zweiten Blick bemerkte sie das offene Fenster. Wie eine Marionette ging sie darauf zu und sah hinunter. Dort unten lagen sie. Ein kleiner Junge dessen Blut das Fell eines Teddy`s durchtränkte. Er hatte ihn fest an sich gedrückt. Und die Augen des Bären schienen zu strahlen.
Auch Teddybären brauchen Liebe!
Tag der Veröffentlichung: 12.08.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle meine Teddybären