Fran Peterz
Wind des Universums
(A Reverse Bridge)
Eine Inner-Spaceopera
Originalausgabe
Ein Tribut an den Schöpfer ‚Der Brücke’ und ‚Der Kultur’,
Iain M. Banks
Wind des Universums
Dort wo im Sommer der Mohn Felder bedeckt
Und der Wind nach Pflanzen und Staub schmeckt
Wo du über Schotter und Erde gehst
Und immer wieder staunend stehst
Roggen sich in der Brise bewegt
Und der Wind Fontänen vor sich hin weht
Dort – genau dort – weißt du
Dieser Sommer wird vorbei sein im Nu
Und so wie er schon ist im Vergehen
So wird auch dein Leben nicht lange bestehen
Stehen bleiben wird irgendwann dein Herz müssen
Doch mit bittrer Süße versehen ist dieses Wissen
Weil du weißt, bis zu deinem Ende wirst du erleben
Und deinen Geist zum unendlichen Universum erheben
PI 0, Prolog-Episode
Verloren in Zeit,
Verloren in Raum,
Als wäre das Früher
Nur ein Traum.
Aber es ist nur
Verschüttet.
Und in deinem
Gedächtnis behütet.
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Staub fegte von den Bergen am Rande der Stadt. Staub, dessen Konsistenz an Ruß erinnerte. Nur dass dieser Ruß nicht schwarz, sondern rötlich gelbbraun war. Durch diese nicht enden wollenden Wolken ritten zwei Männer. Der eine war sehr groß mit breiten Schultern und muskulösen Armen. Seine langen, blonden Haare hingen ihm über die Schultern, wurden vom Wind aber immer wieder hochgewirbelt. Dies schien ihn nicht zu kümmern.
Der andere war wesentlich schmäler, hatte kupferfarbene Haare, die in langen, stark ausgeprägten Locken hinter seinem Kopf in einem Pferdeschwanz zusammen gefasst waren. Beide waren von der Wüstensonne verbrannt und hatten einen Bart, der zu beweisen schien, dass Rasur eine Sache ist, die zur Zivilisation gehört, nicht aber in die Wüste. Beide trugen eine Uniform, die zu einer Welt passte, die sich am Rande der Antike zu befinden schien: Röcke aus Leder, Beinschienen, Sandalen, Brustpanzer mit kurzer Unterbekleidung aus weißem Textil und dazu ein Helm aus Metallstreifen.
Als einzige ihrer Waffen waren ihnen die Schwerter verblieben, Schild und Speere waren am Schlachtfeld in der Wüste verloren. Sie waren vor einigen Monaten mit einem großen Heer aus der Provinzhauptstadt ausgezogen, um die Fremden zu stellen. Auf ihrem Planeten gab es in der ihnen bekannten Welt nur ein großes Reich und am Rande des Gesichtsfeldes dieses Reichs eine Vielzahl von Völkern, die nicht oder nur bedingt imstande waren, Reiche zu bilden. Kriegerische Konflikte blieben meist auf lokale Ereignisse beschränkt und ähnelten eher Polizeiaktionen als Kriegen.
Bis die Fremden kamen. Zuerst waren einigen Fischern leuchtende Steine aufgefallen, die sich über den Himmel bewegten, dann zeigte sich sogar über der Hauptstadt des Reiches ein großer Komet. Die Priester meinten, die Götter seien von ihrem Berg gestiegen. Als aber die Nachricht von der Besetzung der wichtigsten Handelsstadt im Osten des Reiches, Palmista, die Hauptstadt erreichte, setzte der Kaiser ein Heer in Bewegung. Dieses sollte die Fremden zumindest verjagen und die Handelsstadt zurückerobern.
Das Heer zog aus und nach einigen Tagen wurde die Stadt erreicht. Als aber die Generäle versuchten, die Fremden in der Stadt einzukesseln und ihr Luftschiff zu erobern, wurde das Heer von einem leuchtenden Sturm vernichtet. Wenige überlebten und zerstreuten sich in der Wüste, die die Stadt umgab. Die meisten aber – Pferde und Reiter, Fußsoldaten, Bogenschützen, Speerträger, Wagenführer, Offiziere – kamen um und ihre Körper bedeckten das Schlachtfeld. Es war ein sehr kurzer, ungleicher Kampf, dessen Waffen einerseits Plasmakanonen und Tötungsfelder, andererseits aber Speere, Pfeile und Schwerter gewesen waren.
Von Plasmakanonen und Tötungsfeldern wussten aber die beiden Männer, die in einer Welt der frühen Eisenzeit lebten, nichts. Sie hatten überlebt, in einer Welt, in der frühes Sterben so normal war, wie in der Welt der Fremden das Töten und Plündern. Die Angreifer waren eine Bande von Söldnern, die zufällig auf diesen Planeten gestoßen war und dort Beute suchte. Derartige Söldnerbanden waren nichts Außergewöhnliches – sie boten sich dem Meistbietenden an und übernahmen alle Aufgaben, die lohnend erschienen. Oft überfielen sie Handelsschiffe, die den lokalen Spiralarm der Galaxie befuhren. Genauso oft unternahmen sie Raubzüge, überfielen rückständige Planeten und belieferten mit der Beute einen Auftraggeber oder Händler, um zu überleben. Manche dieser Banden schreckten dabei vor nichts zurück, sicher aber nicht vor der Vernichtung eines ganzen Heeres.
Die beiden Männer schienen unschlüssig, wohin sie reiten sollten. Um sich vor den grellen und tötenden Lichtern zu retten, waren sie in die verlassene Stadt eingedrungen. Die Fremden – es schienen nur wenige, aber dafür sehr mächtige Wesen zu sein – waren am Rande der Stadt, dort wo die Berge Platz für eine Ebene ließen, um ihr Luftschiff geblieben und hatten von dort aus die Armee vernichtet.
Andere zuerst Überlebende hatten versucht, den gleichen Weg, den das Heer genommen hatte, zurückzukehren, waren aber dann vom aufsteigenden Luftschiff mit den grellen Lichtern verfolgt worden. Die beiden in der Stadt hatten mitangesehen, dass niemand entkommen war. In der Wüste vor der Stadt regierte das Schweigen des Todes. Die beiden Überlebenden waren durch einen Zufall in die Richtung der Stadt geraten und hatten dadurch den Tod vermieden.
Das Schiff war dann wieder an die Ebene vor der Stadt zurückgekehrt, so, als wäre absolut nichts gewesen. Die beiden Soldaten aber drangen weiter in die Stadt, die von ihren Bewohnern komplett verlassen worden war, ein. Die geradlinigen Straßen bestanden aus Häusern, deren weiß getünchte Wände einen gepflegten Eindruck machten. Es gab auch viele Häuser und Tempel, die mit Ornamenten und Schriftzeichen bedeckt waren. Die Gassen machten trotz der Winde, die den rußartigen Staub mit sich trugen, einen ordentlichen Eindruck. Jeden fünften oder sechsten Block gab es Brunnen, Palmen säumten die Straßen.
Aber alles war verlassen, keine Lebewesen zu bemerken. Die beiden Überlebenden suchten nach Verfolgern. Nichts, scheinbar hatte man sie vergessen oder nicht bemerkt. In einem Viertel, dass an ein Marktviertel erinnerte, machten sie Halt – auch um die erschöpften Pferde zu versorgen. Sie fanden ein Einkehrrasthaus, dessen Türen offen waren. Im begrünten Innenhof gab es einen Brunnen, der Wasser führte. Im Stall gab es Heu für die Pferde.
Im daneben liegenden Schankraum konnten die Männer eine wohlgefüllte Speisekammer finden. Die Bewohner mussten ganz plötzlich die Stadt verlassen haben. Was die beiden nicht wussten, war, dass die Bewohner von den Söldnern als Beute auf ihr Schiff verschleppt worden waren.
Langsam hatte sich die Dämmerung begonnen, über die Stadt auszubreiten. Als die Sonne untergegangen war, war es mit der für diese Breiten typischen Plötzlichkeit dunkel geworden. Den beiden Männern war dies nichts Neues, aber sie wagten es nicht, ein Feuer zu entzünden. Sie zogen sich – um einen Aussichtspunkt zu gewinnen, aber immer im Gefühl, dann in der Falle zu sitzen – in das oberste Stockwerk des für diese Stadt überdurchschnittlich hohen Gebäudes zurück. Aber aus der Richtung, in der die Ebene lag, drang kein Licht in ihre Pupillen.
Zuerst hielt der Blonde Wache, dann der mit den Locken. Aber es blieb ruhig in der Nacht und nur die Sterne zeigten sich in ihrer Pracht. Als die Dämmerung anbrach, lag das Schiff der Fremden immer noch ohne Anzeichen von Aktivitäten am gleichen Platz wie zuvor.
Die aufsteigende Sonne färbte den Horizont intensiv orangegelb, als der wachende Soldat seinen Kameraden weckte, um zu beratschlagen, was sie weiter tun sollten. Aber bevor sie noch ihre Situation miteinander bereden konnten, war ein durchdringendes, dumpfes Dröhnen zu hören. Selbst die Gläser auf dem Tisch des Raums im obersten Geschoss des Hauses klirrten und das Haus selbst schien von einem Erdbeben bewegt zu werden. Die beiden Männer eilten zum Fenster. Was sie sahen, lies ihren Atem stocken: Ein gigantischer, schwarzer Körper löschte die wenigen Sterne, die noch am Himmel sichtbar gewesen waren, aus. Das Schiff – ein solches schien es zu sein – war so groß, dass es den Himmel fast bis zum Horizont dominierte.
Wie von Geisterhand wurde das Schiff plötzlich angehalten und hing – jetzt völlig lautlos – über der Stadt und dem viel kleineren Schiff der zuerst eingetroffenen Fremden. Plötzlich brach aus dem großen, schwarzen Körper, der nur wenige Konturen erkennen lies, auf der den beiden Soldaten unsichtbaren Unterseite ein Licht hervor. Dieses Licht war so stark, dass die aufgehende Sonne zu erlöschen schien. Von Neugier, aber auch von blankem Entsetzen an der Stelle festgehalten, sahen die beiden Männer, dass das kleinere Schiff wie von selbst zu schweben schien und im Innern des großen Schiffs verschwand.
Das Licht erlöschte so plötzlich, wie es aufgeleuchtet hatte. Die Sonne aber war hinter dem großen schwarzen Körper, der wie zuvor lautlos auf der gleichen Stelle verharrte, verschwunden. Die beiden Männer nickten einander zu und wollten über die Stiegen das Haus verlassen. Ein drohendes Gefühl brachte sie dazu, möglichst bald die Stadt verlassen zu wollen.
Aber sie kamen nicht weit. Als sie die Türe des Zimmers, in dem sie die Nacht verbracht hatten, öffneten, sahen sie sich zwei glänzenden, schwebenden, runden Körpern gegenüber. Dann sahen sie ein grelles Licht und danach – nichts mehr.
Epsilon 1, Die ‚Erinnere Dich an morgen’
Am Rande der Klippen
Verweht der Wind ihre Haare.
Ein letzter Blick.
Ein Abschied In ihren Augen.
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Wasser läuft die blauen Wände entlang, ich kann trotzdem das leichte Vibrieren des Allgemeinen Systemfahrzeugs ‚Erinnere Dich an morgen’ spüren. Ich stehe unter einer sehr altmodischen, sehr gewöhnlichen Dusche, die keines der Felder aufweist, die in dieser Zeit so modern und begehrt sind. In diesen Duschen schwebt man und lässt sich von Antigrav-Düsen bestrahlen. Ich bevorzuge die altmodische Variante, in der das Wasser unter Druck auf meinem Körper verteilt wird.
Ich genieße das Gefühl des warmen Wasser und meines Körpers, obwohl dieser nach der letzten, wie nach jeder Geschlechtsänderung, noch recht empfindsam war. Ich spüre meine Brüste, meinen flachen Bauch und meine schmale Taille und war froh, wieder eine Frau zu sein. In meinem letzten Einsatz auf einer verlassenen Welt war es notwendig gewesen, als Mann in einer Gruppe von Söldnern einen für die Kultur wichtigen Gegenstand zu bergen. Als Frau hätte ich nicht die geringste Chance gehabt, mich je in eine dieser Söldnerbanden zu integrieren und sie dazu zu bringen, die Sache mitzumachen.
Geschlechtsänderung ist in der Kultur durch die hochentwickelte Biomanipulation weder ein Tabu, noch eine technische Unmöglichkeit – im Gegenteil, sie wird häufig und gerne praktiziert. Jeder Mensch kann ein Kind zeugen oder auch ein Kind zur Welt bringen. In der ‚Kontaktabteilung’ der Kultur ist sie ein oft genutztes Mittel zur Tarnung und zur Bewältigung von Situationen. Genauso einfach wie der Wechsel des Geschlechts ist auch die Änderung von Körperformen, Aussehen und Größe. Auch eine Verwandlung in eine andere Rasse als die der menschlichen ist möglich. Man musste nur bereit sein, einige Tage oder bei größeren Änderungen bis zu einigen Wochen in einem Biotank zu verbringen. Biotanks waren ursprünglich vor allem für die Heilung von Verletzungen oder für den Ersatz von Organen entwickelt worden, aber die weiteren Nutzungsmöglichkeiten waren zu offensichtlich gewesen.
Ich selbst bevorzuge normalerweise einen weiblichen Körper, mehr aus Gefühlen als aus irgendeinem praktischen Grund. Für den Einsatz, auf dem ich bereits seit einigen Wochen auf der ‚Erinnere Dich an morgen’ unterwegs war, benötige ich allerdings außer der weiblichen Gestalt noch zusätzliche, wichtige Merkmale. Diese sind einerseits der Welt, die die ‚Erinnere Dich an morgen’ ansteuerte, angepasst, aber auch den psychologischen Merkmalen des Agenten, den ich von dieser Welt befreien sollte. Cunis, so sein Name, reagiert am ehesten positiv auf Frauen, die mit dunklen Haaren, schmalen Taillen, hohen Wangenknochen und langen Beinen ausgestattet sind. Vor allem aber zählt, dass es eine Frau sein muss, die Cunis zurückbringt – aus gesellschaftlichen Gründen.
Lange stehe ich unter der Dusche und versuche mir, die wenigen Details, die ich mir schon von Drosden-Jetzow hatte geben lassen, nochmals aufzurufen. Wir sind unterwegs zur Brückenwelt, einem Planeten, der in einer Entfernung von knapp etwas mehr als einer astronomischen Einheit um die Sonne 35 Sagittarius, genannt Sorgan, kreist. Die Brückenwelt ist ein Planet mit nur zwei relativ kleinen Kontinenten. Mehr als acht Zehntel der Oberfläche ist von Wasser bedeckt. Die Bewohner sind trotzdem keine Seeleute, was auch das Vorhandensein der Brücke, einer einzigartigen Konstruktion zwischen den beiden Kontinenten erklärt.
Höchste Zeit, die Daten aus dem Hauptrechner der ‚Erinnere Dich an morgen’ abzurufen, denke ich mir. Bis zum Rendezvouspunkt mit der ‚Mausloch’, einer nur 150 Meter langen Allgemeinen Kontakteinheit, sind es nur mehr knapp 30 Standardstunden. Bis dahin musste ich mir die wichtigsten Details einprägen und mich vorbereiten. So viel ich bisher wusste, hat die Brückenwelt einige unangenehme gesellschaftliche und umweltbedingte Eigenheiten, die mir auf meinem Einsatz noch einiges zu denken geben würden. Ganz zu schweigen von den Geheimdiensten der Staaten der Brückenwelt, denen man keineswegs fehlende Fantasie nachsagte – vor allem in Sachen Folter und Beeinflussung durch geschickte Manipulationen aller Art.
Die Brückenwelt gehört zu jenen Welten, deren fehlende technologische und vor allem geistige Entwicklung sie zu Sperrwelten macht. Niemand aus der Kultur außer den Agenten der Kontaktabteilung darf sie besuchen. Der Erstbesuch durch die Kontaktabteilung liegt bereits mehrere hundert Jahre zurück und es gibt einige ständige Agenten der Kultur dort. Diese greifen nur sehr wenig ein, denn das politische und wirtschaftliche Gleichgewicht ist sehr instabil und die Brückenwelt entwickelt sich insgesamt nur langsam weiter.
Ein Agent auf dem Weg zu einer anderen Welt war auf der Brückwelt durch einen Unfall gestrandet und musste von dieser Welt geholt werden. Ein Eingreifen der ständig anwesenden Agenten ist wegen deren etablierten gesellschaftlichen Stellung nicht möglich und der gestrandete Agent weiß nicht einmal, dass er gestrandet war. Er war von den Herrschern der Brücke – einer der drei Staaten auf der Brückenwelt – als Mann ohne Gedächtnis gefunden worden und verdächtigt worden, ein Außenweltler zu sein. Sie vermuteten es nur – wussten es aber nicht.
Cunis – ich konnte ihn auf Grund unserer mehrmaligen Kontakte schon als alten Bekannten bezeichnen - musste durch einen Agenten aus dem All geborgen werden. Nachdem mein letzter Einsatz nicht weit der Brückenwelt stattgefunden hatte und ich Cunis besser als sonst jemand kenne, war die Wahl auf mich gefallen.
Es würde kein einfacher Einsatz werden – die Brückenwelt ist eine primitive, wenig besiedelte Welt und es ist nicht ohne Aufsehens möglich, einfach dort zu landen und mit dem Agenten in der Hand wieder zu starten. Wir – ich und Drosden-Jetzow, praktisch fast die einzige Kulturerrungenschaft, die mit durfte – würden auf der anderen Seite des Kontinents der sogenannten Republik abgesetzt werden und würden mittels Führer bis zur Brücke vorstoßen müssen. Mehr als dreitausend Kilometer durch die Wüste und das Hochland, welches den Kontinent bedeckt. Danach beginnt erst die Brücke selbst. Die Brücke selbst als Bauwerk ist mehr als fünfhundert Kilometer lang.
Drosden-Jetzow würde als bewaffnete Drohne, deren Waffen aber in erster Linie in Defensivwaffen bestanden, praktisch unsere einzige Waffe sein. Eine ständige Verbindung mit einer Systemeinheit wird es nicht geben. Wir werden auf uns gestellt sein. Aber die Verantwortung werde ich tragen – etwas, was mir vor Einsätzen immer ein gewisses Schaudern verursachte. Insgeheim genoss ich diesen Schauder, die gewisse Nervosität vor dem Unbekannten und gleichzeitig die Chance, etwas in rauen und sehr wirklichen Welten und Realitäten zu unternehmen. Vermutlich muss man diese Eigenschaft haben, um Agent der Kultur zu werden. Das Leben auf einer der Kulturwelten oder auf einem der großen Fahrzeugen der Kultur hat etwas Unwirkliches an sich.
Eben jetzt, als ich unter dem sämtliche Sinne massierendem Wasser stehe, wird mir einmal mehr klar, dass ich derartige Einsätze brauche, um nicht in dieser Unwirklichkeit völlig zu versinken und unterzugehen. Das Leben und der Alltag in der Kultur ist viel zu sehr geschützt und viel zu regelmäßig, um bei mir ein anderes Gefühl als das der Unwirklichkeit aufkommen zu lassen.
Erst nach langem Genuss des Wassers kann ich mich durchringen, dieses mittels eines gesprochenen Befehls abzudrehen und aus der Kabine zu steigen. Ich stelle mich vor den Spiegel, um mich nach zwei Tagen in meiner jetzigen Gestalt endlich an diese zu gewöhnen.
Was ich sehe, kann mich aber durchaus aufmuntern: ich habe lange, dunkelbraune, fast schwarze Haare, die mir über die Schultern fallen, volle und hochangesetzte Brüste, eine schmale Taille sowie harmonisch dazu passende Hüften. Mein Bauch ist flach, meine langen, schlanken Beine gehen bei den schmalen Fesseln in relativ kleine Füße über.
Mein Gesicht harmoniert relativ gut mit meinem übrigen Körper: grau-grüne Augen – die ich nicht hatte verändern lassen, weil sie zufälligerweise zu der Frau passten, deren Rolle ich übernehmen musste. Die sanft geschwungenen Augenbrauenbögen, lange und dichte Wimpern, eine kleine Stupsnase, hoch angesetzte Wagenknochen und etwas aufgeworfene Lippen erzeugen einen fast erotischen Ausdruck. So gefalle ich mir selbst.
Heute, nach Schiffszeit – die sich an die Standardzeit von 24 Stunden am Tag anlehnte – einen Tag vor dem Rendezvous mit der Mausloch, findet ein Kostümfest stand. Das Fest hat als Thema ein lang vergangenes 20. Jahrhundert auf einem unbekannten Planeten und jeder am Schiff konnte teilnehmen. Meistens ist es nur eine relativ kleine Gruppe, die tatsächlich teilnahm. Auch ich konnte mich nur selten dazu entscheiden, obwohl Drosden-Jetzow immer wieder versuchte, mich dazu zu bewegen.
Dieses Mal wollte ich teilnehmen, weil ich mindestens das nächste Monat kein Kulturschiff mehr sehen werde. So lange würde es nämlich dauern, bis die ‚Mausloch’ zurück zur Brückenwelt kommen wird. Fraglich ist auch, ob bis dahin meine Aufgabe erledigt sein würde. Nicht, dass ich nicht schon viel längere Aufträge erledigt hatte.
Auf der ‚Erinnere Dich am Morgen’ leben derzeit mehrere zehntausend biologische Lebewesen und mehrere hundert nichtbiologische Wesen, nur zweihundert hatten sich für das Fest angemeldet.
Ich würde einige meiner früheren Liebhaber, aber auch einige Angehörige der Kontaktabteilung treffen. Die Utensilien für die Party hatte ich über den Zentralcomputer besorgt und in meine Wohneinheit, eine Suite mit mehreren Zimmern liefern lassen. Den Zentralrechner wollte ich morgen benutzen, um die detaillierten Informationen für meine Mission zu erhalten.
Der Packen mit den Utensilien für die Party lag im Vorraum. Ich öffne ihn und stellte mit wachsender Verwirrung fest, dass das, was auf den 3D Holos des Zentralrechners, sehr attraktiv ausgesehen hatte, in Wirklichkeit sehr kompliziert, umständlich und fremdartig wirkte. Einige der Kleidungsstücke und Gegenstände wirken sehr vertraut, andere wieder in unserem Zeitalter der relativ fortgeschrittenen biologischen Möglichkeiten sehr eigentümlich, fremdartig und antiquiert.
Als Drosden-Jetzow, die in meiner Wohneinheit freien Zugang hat, bei mir auftauchte, habe ich alles schon ausgebreitet und sitze mit gerunzelter Stirn der Verzweiflung nahe davor.
Was ich gefunden habe: zwei dünne Strümpfe aus dem alten, heute nicht mehr gebräuchlichem Material Nylon, einen winzigen String, der praktisch nur aus zwei Dreiecken besteht, die seitlich mit sehr schmalen Bändern verbunden sind. Weiter konnte ich auch einen BH aus der gleichen Farbe und aus dem gleichen glänzendem Material in dem Paket finden. Zu den Strümpfen gehört sogar ein Strumpfgürtel.
Dazu kommen einige Kleidungsstücke, die mir wesentlich vertrauter sind: Ein sehr kurzer schwarzer und elastischer Rock, eine weit ausgeschnittene Bluse und hochhakige Stiefel, die bis über die halben Oberschenkel reichen. Es gibt auch einige Schmuckstücke, Ohrringe mit goldenen Sonnen an kurzen Ketten und mehrere Ringe sowie ein Collier mit der gleichen goldenen Sonne.
Drosden-Jetzow ist mir recht vertraut und manchmal neigt sie eher zu gewalttätigen Ausbrüchen im Falle von Gefahren, aber kaum je zuvor zu einem derartigem Ausbruch von Heiterkeit, als sie mich halb aufgelöst vor den Gegenständen sitzen sieht. Ihr fast schon brüllendes Lachen endet in einem ‚Man könnte annehmen, du lebst in der Zukunft’. Aber schließlich findet sie sich bereit, mir zu helfen, das 20. Jahrhundert am eigenen Leib zu erleben.
Der String passt wie angegossen, aber das Gefühl, so etwas zu tragen, ist schon sehr eigenartig. Noch ungewohnter sind aber Strümpfe und Strumpfgürtel. Niemand in der Kultur trägt heute so etwas noch. Der Zug an meinen Beinen und an der Taille, der durch die elastischen Kleidungsstücke entsteht, ist für mich mehr als ungewohnt und es zwickte an allen möglichen Stellen. Die Strümpfe jucken überall an den Beinen. Party ist Party, ich würde mich die nächsten Stunden schon daran gewöhnen.
Rock wie Bluse haben ihre Popularität auch in unserer Zeit nicht eingebüsst, nur trägt niemand mehr etwas unterhalb dieser Kleidungsstücke. Auf den meisten Planeten, auf denen ich im Einsatz gewesen war, waren derartige Modethemen ohne Bedeutung geblieben oder die Zivilisationen waren weit davon entfernt. Die hochhakigen Stiefel anzuziehen, gerät besonders zur Qual, zumal man sie vorher mit einem sogenannten Reißverschluss – original 21. Jahrhundert – öffnen muss. Man muss diesen Verschluss öffnen, die Beine hineinzwängen, die Füße fest auf die Sohle der Stiefel drücken und die Ferse in die dafür gedachte Stelle zwängen.
Um überhaupt so weit zu kommen, muss ich vorher den sowieso nur kurzen Rock so weit hinaufschieben, dass ich überhaupt die Beine weit genug spreizen und übereinander legen kann, um die Stiefel anzuziehen. Das 20. Jahrhundert musste so verrückt wie unpraktisch gewesen sein – als ich in das Badezimmer gehen will, um die Schmuckstücke anzulegen, stelle ich fest, dass das Gehen mit den absurd hohen Absätzen ein Gleichgewichtsgefühl erfordert, welches mir einfach noch fehlt.
Mehr stolpernd als gehend mache ich mich mit Drosden-Jetzow auf den Weg zur Party, die einige Decks oberhalb des Wohndecks in einer der großen Konferenzhallen der ‚Erinnere Dich an Morgen’ stattfindet. Die ‚Erinnere Dich an Morgen’ ist mit mehreren zehn Kilometern eines der größeren Systemfahrzeuge. Viele Menschen und Fremdweltler leben ihr ganzes Leben auf derartigen Schiffen – andere, wie ich selbst, leben immer nur zeitweise und immer wieder auf anderen der riesenhaften Schiffen.
Die Party ist schon bei unserem Eintreffen gut besucht, mehrere Dutzend Menschen und einige Fremdweltler sind schon eingetroffen. Die Konferenzhalle, die über mehrere Decks reichte, ist mit farbigen Tüchern an der Decke und an den Wänden dekoriert worden. Mehrere Drohnen sind als Bedienung mit Getränken und kleinen Speisen unterwegs, die sie den Gästen anbieten. Im Hintergrund wird hinter einer Absperrung ein großes Buffet aufgebaut.
Ich geselle mich zu einer Gruppe von Kollegen aus der Kontaktabteilung, die mitten im großen Raum um einen runden Tisch stehen, auf dem sich einiges an Getränken befindet. Einige der Anwesenden waren ehemalige Liebhaber von mir gewesen. Genar-Hofoen ist jemand, der praktisch immer als Mann anzutreffen war. Er ist in einen schwarzen Smoking gekleidet und sieht fantastisch aus. Fyr Devan war offensichtlich seine heutige Begleiterin. Sie hat einen weit auslandenden Rüschenrock an und trägt dazu Pumps mit hohen Absätzen, die ihr offensichtlich genauso wie mir einiges an Problemen mit dem Gleichgewicht verursachen.
Ich war mit ihr schon einige Male im gleichen Bett gelandet, als Mann und als Frau. Das letzte Mal hatte ich sie auf einem Planeten im System Wega gesehen, wo ich ihr in einer Gruppe von mehreren Agenten die Herrscher eines Landes stürzen half, die selbst den geistigen Fortschritt einer sehr rückständigen Welt zu beenden drohten.
Genar-Hofoen selbst war erst vor recht kurzer Zeit von einem mehrere Jahre dauernden Auftrag zurückgekehrt und erzählt von seinen Erlebnissen auf einer Welt, die von nicht menschlichen Lebewesen bewohnt wird. Der einzige Fremdweltler unserer Gruppe ist Zen-Drehn-Drah, ein Gallertwesen von einer Welt mit sehr hoher Schwerkraft und einer Atmosphäre, die sich nicht mit der von Sauerstoffatmern verträgt. Er trägt daher einen Gallertanzug, der nicht nur seinen Körper, sondern auch seinen Kopf bedeckt und ihn mit Atemgasen versorgte. Ich war ihm bisher noch nie begegnet, auch waren Fremdweltler in der Kultur relativ selten anzutreffen.
Anders der zweite Mann unserer Gruppe. Ich kenne Dajeil Gelian wahrscheinlich besser als jeden anderen Agenten, vielleicht Xristoph Cunis ausgenommen. Das erste Mal war ich ihm vor fünf Standardjahren begegnet und wir hatten uns – beide damals weiblich – ineinander verliebt. Fast zwei Jahre waren wir ein leidenschaftliches Liebespaar gewesen, wobei uns eine gemeinsame Aufgabe geholfen hatte, unsere Beziehung aufrechtzuerhalten. Danach wurden uns getrennte Aufgaben zugewiesen und wir sahen uns bis zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Ich hatte nicht gewusst, dass sie auch auf der ‚Erinnere Dich an Morgen’ war. Nur steht sie jetzt als ziemlich attraktiver Mann vor mir – ich spüre trotzdem wieder die alte, vertraute Sehnsucht.
Von einer der anderen Frauen in der Gruppe, Daril Toliman, werde ich in ein sehr interessantes Gespräch über den letzten großen intergalaktischen Krieg, den der Kultur gegen die Idiraner, verwickelt, sodass ich wenig Gelegenheit hatte, mit Dajeil zu sprechen. Außerdem ist sie nicht alleine, sondern in Begleitung von einer sehr großen Frau, die mir wegen ihres sehr langen blonden Haares und des großzügigen Outfits – sie trägt nur ein winziges Top, superkurze Shorts und sehr hohe Stilettos – aufgefallen war. Die beiden scheinen derzeit ein Paar zu sein. Kurz kommt in mir Eifersucht hoch, aber Daril beschäftigt mich intensiv mit ihrem eindrucksvollen Wissen.
Drosden-Jetzow scheint auch wieder in Fahrt zu sein und so führten wir ein recht heftiges Dreiergespräch über Kriegsführung in einem längst vergangenen und fast vergessenen Konflikt. Ich ärgere mich auch über mich selbst, eifersüchtig zu sein ist normalerweise nicht meine Angewohnheit und ich fühle mich auch darüber erhaben. Außerdem passt dies ganz und gar nicht zu meinem Leben in der Kultur. Agent zu sein heißt normalerweise, keine langfristigen Beziehungen führen zu können.
Erst nachdem das Buffet eröffnet ist und das Essen in kleinen Gruppen zu sich genommen wird, habe ich Gelegenheit, mit Dajeil zu sprechen. Ich versuche vorsichtig, auszuloten, wer die Frau an seiner Seite ist und ob es Möglichkeiten zu einer Liebesnacht geben würde. Sie ist aber sehr verschlossen und reagiert nicht auf meine vorsichtigen Auslotungsversuche. So gebe ich nach recht kurzer Zeit auf und versuche, meinen letzten Abend in der Zivilisation zu genießen. Der Wein ist herrlich, das Essen sehr gut und der Abend fröhlich – und viel zu kurz.
Ich bin bei den letzten Gästen, die erst zu sehr früher Stunde die Party verlassen. Dajeil habe ich schon vor Stunden aus den Augen verloren. Ich bin dabei, die unpraktischen – wenn auch erotischen – Kleidungsstücke auszuziehen, als es an der Tür meiner Wohneinheit klopft. Ich öffne völlig verblüfft wegen des Zeitpunkts der Störung und stehe Dajeil gegenüber.
Sie sieht mich lächelnd und fragend an, offenbar erstaunt über mein Aussehen – ich trage immer noch einen Teil der Wäsche des 20. Jahrhunderts. Wir schauen einander einen Augenblick an und ich sehe Lust in ihren/seinen Augen aufblitzen. Wie automatisch ziehe ich ihn in meine Wohneinheit, bis ich plötzlich an seine Begleitung denken muss: „Und Deine Freundin?“. Darjeil schüttelt den Kopf. „Nicht meine Freundin, meine Schwester!. Aber Du solltest Dich öfters im 20. Jahrhundert aufhalten!“ Ich wundere mich, weil Familienbande in der weit verstreuten Kultur selten sind. Ihr Kompliment überhöre ich schon. Der Bann ist aber gebrochen, wir küssen einander innig.
Es dauert nicht lange und wir sinken auf das großzügige Bett meiner Wohneinheit. Zwischen uns lodert wieder das kraftvolle Feuer einer Leidenschaft, die ich schon verloren geglaubt hatte. Auch und besonders, weil ich weiß, dass es wieder ein Abschied für lange Zeit sein wird. Diese Nacht aber gehört uns.
Tau 1, Interregnum des Nebel
Verstehst du die Zeichen
Links und rechts deines Wegs?
Vielleicht – aber du ignorierst sie.
Schiebst sie von dir.
Um deutlicher sehen
Zu können.
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Du hast gewusst, Unfrieden und Flucht wird dein Leben sehr schnell verändern. Nachdem du lange Zeit auf der Insel mitten in der See der Adler gelebt hast, war der Zeitpunkt zum Abschied gekommen. Du bist selber ein Flüchtling gewesen, aber andere würden kommen und deine Sesshaftigkeit beenden.
Zuerst waren nur einzelne gekommen, ungepflegte, langhaarige Männer – mehr Flüchtlinge als Krieger. Dann aber waren die Gruppen größer geworden, besser ausgerüstet und besser organisiert. Zuerst waren sie eingesickert, in das alte, lange bestehende, ruhige Gemeinwesen aus Fischern und einfachen Inselbewohnern, die ihre Schafe hüteten. Dann waren die Gruppen noch größer geworden und aus dem Sickern war eine Flut geworden.
Die Insel in der See der Adler war schnell klein geworden, obwohl die Neuankömmlinge ihre Behausungen in eigenen, von der früheren Bevölkerung getrennten Dörfern, errichteten. Zuletzt waren den kleinen Gruppen mehrere größere auf stabilen, seetauglichen Schiffen gefolgt. Diese großen Gruppen hatten begonnen, miteinander um den Besitz und um die Macht auf der Insel zu kämpfen.
Gerade die ursprüngliche Bevölkerung hatte unter den zahlreichen Kleinkriegen am meisten zu leiden gehabt. Als dann der Führer einer der größten Gruppen sich als Herrscher über die ganze Insel zu gebärden begann und versuchte, mehrere Dörfer zu unterwerfen, beschlossen mehrere Gemeinschaften, die Insel zu verlassen und auszuwandern. Du warst unter denen, die die Insel verlassen wollten. Ihr wart die Freiheit gewohnt und nicht bereit, auf sie zu verzichten.
Ihr habt heimlich einige Schiffe nach dem Muster der Schiffe der Eindringlinge gebaut und wolltet zu einem günstigen Zeitpunkt wegsegeln. Sie haben aber eure Pläne erfahren und versucht, Euch an der Abreise zu hindern. Ihr musstet mit viel zu geringen Vorbereitungen und voreilig fliehen, um euer Leben zu bewahren. Der vorherrschende Wind blies aus Osten, also segeltet ihr nach Westen. Die Nahrungsmittel und das Wasser hatten nur für wenige Tage gereicht.
Erst einige Tage, nachdem die Rationen gestreckt und schließlich verzehrt worden waren, konntet ihr eine Insel am Horizont ausmachen. Diese erwies sich aber als Falle für die relativ unerfahrenen Bootsleute, die ihr wart. An den Riffen rund um diese Insel zerschellten mehrere Schiffe eurer kleinen Flotte, die Seelen gingen verloren. Erst als ihr den Kanal zwischen den Riffen entdeckt habt, war es möglich, die paradiesisch scheinende Insel anzulaufen und so etwas wie einen Naturhafen zu finden.
Diese Insel aber erwies sich als große Enttäuschung für eure Hoffnungen. Es gab nur wenig Wasser und praktisch keine Tiere, die als Jagdbeute geeignet gewesen wären. Nur ein Dickicht von Pflanzen und Schwärme von Insekten bevölkerten diese Insel. Ihr musstet wieder fliehen, Fieber ging um und dezimierte die Männer, Frauen und Kinder.
Ihr seid weiter gesegelt, nur mehr drei Schiffe und einige kleinere Schaluppen mit Segeln. Durch einen Sturm wurde die nunmehr sehr kleine Flotte über das Meer verstreut. Du hast als einziger mit Seeerfahrung eine kleine Schaluppe, auf der sich sonst noch mehrere Frauen mit ihren Kindern befunden haben, gesteuert.
Als der Sturm nach mehreren Stunden endlich abebbte, hast du keines der anderen Schiffe mehr gesehen, dafür eine Insel mit niedrigen Bergen. Du hast – fast schon ohne Nahrungsmittel und Wasser – die Insel angesteuert, die sich dieses Mal als etwas gastfreundlicher erwies. Es war ein wunderschönes Atoll mit einer Zentralinsel, die aus einem Vulkan entstanden sein mochte. Auf dieser Insel gab eine kleine Süßwasserquelle und Kleinwild, welches gejagt werden konnte.
Aber das Glück war dir zumindest nicht lange hold. Als du auf die kleine Schaluppe zurück geschwommen bist – die Frauen waren mit ihren Kindern auf der Insel geblieben – kam sehr plötzlich ein Sturm auf und riss den Anker aus dem sandigen Meeresboden. Durch den plötzlichen Ruck schlugst du mit der Schläfe an eine Kante und warst bewusstlos.
Als du wieder zu dir kamst, warst du mitten auf See und hast kein Land mehr gesehen. Es war schon dunkel geworden, aber du konntest erkennen, wie Nebel aufzog. Du hast versucht, die Reste der Segel zu setzen, die die Schaluppe noch am Mast hängen hatte. Vergeblich, es wehte kein Wind. Nur dieser alles durchdringende Nebel, der so gar nicht an die warme See, in der das wunderschöne Atoll lag, erinnerte.
Du sitzt so bewegungslos wie die See selbst im Boot, an den Mast gelehnt und starrst in die Wände aus Nebel, die dich umgeben. Es ist völlig still, nur selten hörst du leise kleine Wellen an die Holzwände der Schaluppe schlagen. Stille sickert in dich ein – und Nebel.
Epsilon 2, Die Mission
Flieg, flieg, so hoch und so schnell du kannst.
Tu es, denk nicht nach.
Nur, wenn du die Stratosphäre erreichst.
Bist du dort, wo du sein möchtest.
Blitze zucken über den Himmel.
Doch du fliegst weiter, immer weiter,
besessen von deinem Wunsch.
Auch wenn du verbrennst.
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Ich zucke hoch, noch völlig eingenommen von einem Traum, an den ich mich nicht erinnern kann. Langsam erst kommt mir zu Bewusstsein, was gewesen war und was auf mich wartete. Bilder kommen hoch, ich sehe unsere beiden schwitzenden Körper in höchster Erregung. Ich schüttle mich, um die Empfindungen, die wieder hochkommen, abzustreifen. Ich bin schon immer viel mehr ein visueller Typ gewesen, kann Momentbilder leichter aus dem Gedächtnis abrufen als Abläufe. Letzte Nacht ist für mein Gedächtnis voll von Bildern, die Gefühle von Leidenschaft, Liebe, Sehnsucht, aber auch schmerzenden Verlust in grellen Pastelltönen niederschreiben. Grell und Pastell – nur ein scheinbarer Widerspruch.
Neben meinem Bett steht ein blinkender Holowürfel. Ich berühre ihn und aktiviere damit die Nachricht. Es ist Darjeil – sie musste weg, zu einer Aufgabe. Wieder einmal trennen sich unsere Wege. Nicht einmal der jetzige Augenblick, nach Schiffszeit am frühen Morgen, war uns vergönnt. Aber ich denke an meine eigene Aufgabe – es ist besser so.
Ich benutze die Dusche und setze mich anschließend an meine Verbindung zum Zentralrechner, rufe die Unterlagen über die Mission auf. Die Erklärungen setzen sich aus mehreren Kapiteln zusammen, die ich selbst lese. Ich könnte sie mir auch vorlesen lassen, aber ich bevorzuge das gute alte Lesen. Das Inhaltsverzeichnis zeigt mir einen kurzen geologischen, geografischen und geschichtlichen Überblick, Beschreibungen über die derzeitige Situation auf der Brückenwelt, eine Kurzbeschreibung, wie der Unfall von Cunis passiert ist und in welcher Lage er sich befindet sowie über die Rettungsaktion und die damit verbundenen potentiellen Gefahren.
Schon das erste Kapitel beginnt mich nach wenigen Worten in den Bann, den ich oft bei Informationen über andere Welten erlebte, zu ziehen. Die Brückenwelt ist der vierte Planet der Sonne 35 Sagittarius, ein Stern vom Typ G1 V. Alle anderen Planeten im System sind unbewohnt und einige davon sind Gasriesen. Ingesamt zehn Planeten und einige hundert Monde in der Größe von mehreren Tausend Kilometern bis zu wenigen hundert Metern Durchmesser. Das System ist ein ungestörtes System mit einer Oortschen Wolke, in der sich mehrere Millionen Kometen befinden. Die Brückenwelt selbst, von den Bewohnern entweder einfach Welt oder auch Heim des Wassers genannt, ist ein Planet mit knapp 12.000 Kilometern Durchmesser. Die Schwerkraft beträgt 0,98 Standardwert.
Außergewöhnlich ist schon eher, dass Welt zu über 80% von Wasser bedeckt ist. Es gibt zwei langgestreckte, aber schmale Kontinente und mehrere hundert Inseln. Zwischen den beiden Kontinenten gibt es ein sehr flaches Meer mit einer durchschnittlichen Tiefe von nur zwei bis vier Metern und mit sehr vielen sehr kleinen Inseln. Die Kontinente haben im Norden eine Landbrücke, weiter südlich überspannt die Brücke mehrere hundert Kilometer weit das flache Meer und verbindet so die beiden Kontinente. Das Klima entspricht einem gemäßigten Klima, weil sich die beiden Kontinente in mittleren südlichen Breiten befinden. Es gibt im Bereich des flachen Meeres (und damit der Brücke) eine gewisse Neigung zu plötzlichem Nebeleinfall während gleichzeitigem Temperaturabfall um bis zu zehn Grad innerhalb kurzer Zeit.
Die Kontinente selbst – der kleinere der beiden bildet das sogenannte Königreich, der größere der beiden die sogenannte Republik – haben ein sehr unterschiedliches Klima. Während das Königreich aufgrund fruchtbarer Böden sowie relativ ausgeglichener Niederschläge und ausgedehnter Felder einen Agrarstaat bildet, ist die Republik wesentlich inhomogener. Die Republik besteht aus ausgedehnten Wüsten und Steppen im Ostteil, einem großen zentralen Binnenmeer und wieder Steppen und Ödländer im Westen. Dort grenzt im Süden der Staat der Brücke und im Norden das Königreich an die Republik an. Die Agrargebiete der Republik – die Welt ist aufgrund der primitiven Technologie immer noch sehr stark von der Fruchtbarkeit und den Niederschlägen, teilweise auch von künstlicher Bewässerung abhängig – grenzen fast alle an das Binnenmeer an. Das Binnenmeer besteht im Gegensatz zu den großen Ozeanen aus Süßwasser.
Die Hauptstadt der Republik, Anomia, befindet sich am Ufer des Binnenmeers. Von dort geht eine Bahnlinie über kleinere Städte und Dörfer bis zur Brücke und über die Brücke bis zum Königreich. Das Königreich als solches ist wesentlich weniger gegliedert als die Republik. Das Königreich hat zwar eine Hauptstadt und einen König als Herrscherfigur, besteht aber sonst praktisch nur aus relativ kleinen Orten – die kaum die Bezeichnung Stadt verdienen. Es gibt im Gegensatz zur Republik zwar keine großen Seen, sehr wohl aber Flüsse, Bäche, Moore, kleine Seen und Teiche. Es existieren auch wegen der dünnen Besiedlung ausgedehnte Wälder, vor allem im Westen des Kontinents.
Rund um die Kontinente gibt es einige größere sowie eine Vielzahl von kleinen Inseln. Die Bewohner der Brückenwelt sind – ganz im Gegensatz, zu dem was man eigentlich vermuten könnte – keine großen Seefahrer. Wegen der Beschaffenheit der Brückenwelt wäre dies auch nicht sinnvoll. Die wenigen bewohnten Inseln sind mit relativ kleinen Booten und Schiffen vom Festland aus erreichbar und von diesem nicht weit entfernt. Es gibt sowohl im Süden als auch im Norden jeweils einen breiten Gürtel aus Wasser, der erst durch die Eisdecken an beiden Polen ein Ende findet.
Die Brückenwelt und ihre Sonne sind mit einem Alter von mehr als sieben Milliarden Jahren relativ alte Himmelskörper. 35 Sagittarius wird in knapp 4 Milliarden Jahren die Hauptreihe verlassen und zu einem roten Riesen expandieren. Die Welt ist geologisch sehr ruhig, die Kontinentalplatten – beiden Kontinente befinden sich auf einer Platte – verschieben sich nur minimal, was das fast völlige Fehlen von Erdbeben und Vulkanausbrüchen erklärt. Zudem verfügt die Welt nur über drei sehr kleine Monde, die fast keine Tiden auslösen.
Die Welt ist damit ein insgesamt recht stabiler Planet, was für die menschliche Geschichte des Planeten aber nicht gilt. Vor relativ kurzer Zeit erst – aufgrund des Alters des Systems auch ungewöhnlich spät – entwickelten sich die ersten Menschen aus primatenartigen Vorfahren. Dies ist an sich nichts Ungewöhnliches, aber die Geschwindigkeit, in der dies geschehen sein muss, lässt ein Eingreifen einer anderen Rasse vermuten. Es können aber nicht die Idiraner gewesen sein, sondern eine unbekannte raumfahrende Spezies.
Die Geschichte der Brückenwelt bewegte sich aber sehr schnell in außergewöhnlich aggressive Bahnen. Vor knapp zweitausend Jahren – ein Jahr auf der Brückenwelt entspricht fast genau einem Standardjahr – kam es zu ersten ernsten Kriegen. Trotz dieser immer wieder aufflammenden Kriege war die technologische und sozialen Entwicklung auf beiden Kontinenten relativ einheitlich vorangeschritten.
Es bildeten sich Staaten, die sich in wechselnden Bündnissen gegenseitig unterstützten und dann wieder gegenseitig überfielen. Von geschickten Herrschern – viele der Staaten waren Königreiche, Fürstentümer oder gar Kaiserreiche – wurden einige der Staaten vereinigt und so bildeten sich immer größere selbstständige Gebilde. Oft genug wurden Staaten wieder unter mehrere Söhne und Töchter aufgeteilt, aber mehr und mehr Herrscher gingen dazu über, ihre Staaten als Erbe in eine Hand zu legen.
Am Höhepunkt der Staatenbildung auf der Brückenwelt entstanden auf den Kontinenten jeweils ein großer Staat. Daneben waren nur einige kleinere Staaten auf dem Kontinent, der später das Königreich bilden sollte, übriggeblieben. Diese fühlten sich durch den großen Staat am eigenen Kontinent, aber auch durch den Großstaat am anderen Kontinent gefährdet. In relativ kurzer Zeit nützten sie durch geschickte Bauweise das flache Meer aus und begannen, das Bauwerk zu errichten, welches später als ‚die Brücke’ bekannt werden sollte.
Als der Druck durch das spätere Königreich zu groß zu werden begann, war der Bau der Brücke samt der gesamten Infrastruktur und den Bauten schon ein ganzes Stück vorangeschritten. Die relativ schmale Konstruktion der Brücke erlaubte es auch dem weit unterlegenen Heer der Kleinstaaten, den Zugang für die Soldaten der Großstaaten zu sperren. Diese besetzen allerdings das gesamte Festland, die Kleinstaaten existieren nur mehr auf der Brücke. Diese wurde immer weiter ausgebaut, bis mehrere hundert Klicks entfernt der Kontinent erreicht wurde. Der Stand der Technologie war am Beginn der industriellen Epoche, was für die Errichtung der Brücke und der gesamten Infrastruktur ausreichte.
Von nun an war die Brücke ein geeinigter Staat, auch weil die Kleinherrscher eingesehen hatten, dass eine einheitliche Führung für das Überleben notwendig war. Vieles, was die Brückenbewohner benötigten, wurde selbst erzeugt und die Brückenstruktur für Bevölkerungswachstum immer weiter in die Höhe getrieben. Es entstanden Schulen, Fabriken, Wohnungen, Verwaltungsgebäude, Universitäten, Bibliotheken, Grünbereiche, Farmen und so weiter.
Die Brücke ist einerseits in Ebenen gegliedert, es gibt weit unten eine Fabrikebene, darüber die Ebenen der Arbeiter, dann eine Zugsebene – auf der Züge als wichtigste Fernverkehrsmittel verkehren. Darüber existiert eine Nahverkehrsebene für Fahrräder, Rikschas und Fußgänger. Noch weiter oben Wohnungen, Verwaltungsräume und Verwaltungsgebäude sowie Privatgebäude für die ehemalige adelige Elite, die immer mehr zu einer Geldelite wurde. Die Ansätze eines Geldwesens - was für eine fremdartige und antiquierte Wirtschaftsmethode! - waren schon früh auf der Brückenwelt ausgebildet. In einer Zeit, auf der sich die Technologie schnell weiterentwickelte und Dampfmaschine, elektrischen Strom sowie viele andere maschinelle Fortschritte hervorbrachte, hatte sich das Geld bereits durchgesetzt und diente als Ausgleich für die Arbeitskräfte.
Durch die Konzentration der Staaten und die gemachten technischen Fortschritte aber war die Gefahr, die durch die beiden feindlich einander gegenüberstehenden Großstaaten ausging, immer mehr von einer passiven zu einer aktiven geworden. Der Herrscher des Königreichs, welcher der sogenannten Republik vorausging, hatte von sich aus dem anderen Herrscher den Krieg erklärt und war zum Angriff übergegangen. Im folgenden, fast dreißig Jahre dauernden Krieg wurden Waffen eingesetzt, die ganze Landstriche verwüsteten. Vor allem wurde der westliche Teil der jetzigen Republik und der östliche Teil des jetzigen Königsreichs sehr stark betroffen.
Der nunmehrige Zustand der heutigen Republik ist Folge dieses Kriegs. Aber die Folgen waren und sind noch schlimmer: Es kamen derart viele Menschen ums Leben, dass viele bereits entwickelte Techniken wieder verloren gingen und ganze Landstriche vereinsamten. Städte wurden verlassen, Gebiete verödeten. Aus dem blühenden Königreich wurde ein Agrarstaat mit großen unbevölkerten Gebieten. Den Staat des Angreifers traf es am härtesten, nur das Gebiet um das Binnenmeer blieb im Großen und Ganzen intakt, während der Westen verödete. Der Osten des Kontinents war immer schon relativ unfruchtbar und leer gewesen – hier hatten Banden und Skorpione das Sagen und die Zentralregierung war weit entfernt. Auch dieser Staat verlor sehr viel seiner Technologie und sozialen Entwicklung und wurde um Jahrzehnte zurückgeworfen. Der letzte Herrscher wurde gestürzt und es bildete sich die Republik – im Prinzip eine diktatorische Oligarchie. Der andere Kontinent blieb ein Königreich, obwohl die Machtbefugnisse dessen durch ein Parlament eingeschränkt wurde.
Der Staat der Brücke hatte durch die Auseinandersetzungen am wenigsten gelitten, sah sich aber nicht in der Lage, die Schwäche der anderen Staaten auszunützen. Die Brücke musste sich deshalb eine Rohstoffquelle – zusätzlich zu den Rohstoffen, vor allem Metalle, aus dem Binnenmeer – sichern. Diese Sicherung gelang durch Lieferung von Fertigprodukten, vor allem Maschinen an das Königreich, im geringeren Maße auch an die Republik.
Seitdem haben sich die Verhältnisse zwischen den Staaten zwar normalisiert, aber es herrscht ein reger Betrieb bei den jeweiligen Geheimdiensten. Die Brückenwelt befindet sich in einem Zustand des unbehaglichen Gegenüberstehens, kein Staat will dem anderen Staat Vorteile überlassen. Dies sorgt aber auch für statische Verhältnisse – die technologische und vor allem soziale Entwicklungsgeschwindigkeit hat sich auf fast völligem Stillstand verringert.
Somit war die Brückenwelt von nur geringem Interesse für die Kultur und keineswegs als Partner oder gar als Aufnahmekandidat in die Kultur geeignet. Trotzdem gibt es ein recht kleines Team von Agenten der Kultur auf der Welt, welches die Entwicklungen genau beobachtet. Die ganze Situation aber wäre kein Grund für einen Einsatz eines weiteren Agenten gewesen.
Dies ergab sich erst, als Xristoph Cunis von der AKE ‚Geheimes Verlangen’ von einem Planeten einige Sonnensysteme weiter abgeholt wurde. Die AKE ‚Geheimes Verlangen’ hatte durch Beschuss auf diesem Planeten einige Schäden davongetragen und war in der Nähe von 35 Sagittarius so schadhaft geworden, dass der einzige Passagier abgesetzt hatte werden müssen.
Leider kam es dabei zu einem Unfall – die Landungskapsel war unbemerkt ebenfalls beschädigt gewesen und stürzte in der Nähe der Brücke ab. Cunis wurde nahe einer der kleinen Inseln, auf der die meisten Brückenpfeiler standen, von Fischern bewusstlos und ohne Erinnerung gefunden. Sofort interessierte sich der Geheimdienst der Brücke für ihn. Cunis blieb aber ohne Erinnerung.
Vor allem der Chef des Geheimdienstes, Geitor Syslin, vermutet von ihm eine außerirdische Herkunft, ohne es zu wissen. Mit Hilfe eines Psychiaters, Dr. Howland, einer relativ hochstehenden Persönlichkeit, versucht der Geheimdienst, an die Erinnerungen Cunis heranzukommen. In dieser Situation – Cunis ist erst seit einigen Tagen auf der Brücke – benötigte die Kultur einen weiblichen Agenten, der in die Umgebung des Patienten eingeschleust wird. Hier komme ich ins Spiel, weil ich erstens der nächste verfügbare Agent, aber auch jemand bin, der schon einige Male mit Cunis zusammengearbeitet hatte.
Die Amnesie dürfte nach Einschätzung des Berichts noch einige Zeit anhalten. Damit ist die Gefahr, dass der Geheimdienst und damit die Herrscher der Brücke, Informationen über die Kultur erhalten, noch relativ gering. Die Technologie der Brückenwelt ist auch nicht so weit fortgeschritten, dass die Amnesie mit chemischen oder biologischen Mitteln gelöst werden kann.
Damit steht mir etwas Zeit, an Cunis heranzukommen, zur Verfügung. Sollte sich die Amnesie nicht durch simple psychologische Methodik lösen lassen, so steht mir eine kleine Dosis eines Mittels zur Verfügung, welches für solche Fälle bei Agenten konzipiert und entwickelt wurde.
Meine Aufgabe war damit folgende: Wir - ich und Drosden-Jetzow - werden auf der Ostseite des Kontinents der Republik abgesetzt. Eine Landung in anderen Teilen der Brückenwelt ist wegen der notwendigen Tarnung fast unmöglich. Eine einheimische Führerin wird uns von diesem Ort aus durch die Wüste bis nach Anomia bringen. Von dort aus werden wir mittels Bahn in mehreren Tagesetappen auf die Brücke gelangen. Was für eine langwierige und altertümliche Reisemethode. Aber oft genug war die Politik der Kultur so – statt ein Team zu senden, um schnell und kurzfristig den Agenten von der Brückenwelt zu holen, was einiges an Aufsehen erregen hätte können, wurde ein hoffentlich unauffälliges Agentenpaar quer über die gesamte Welt gesandt. Die Politik der Kultur lautete immer: Kein Aufsehen erregen und nur geringe Einmischung.
Auf der Brücke musste ich Kontakt mit dem Agenten der Kultur, Chefingenieur Erron, aufnehmen. Dieser würde mich – auch deswegen hatte ich mich in ein ganz bestimmtes Aussehen bioformen lassen – als seine Tochter ausgeben. Seine echte Tochter musste sich in dieser Zeit verborgen halten. Nachdem Chefingenieur Erron eine relativ hohe Position mit entsprechender finanzieller Versorgung bekleidete, sollte dies kein Problem darstellen.
Der Einsatz ist aber nicht ohne Risiko – sollte ich von Drosden-Jetzow getrennt werden, so standen mir nur meine Kampfausbildung und die primitiven Waffen der Brückenwelt zur Verfügung. Außer dem Amnesielöser kann ich auch keine chemischen oder biologischen Waffen mitnehmen. Im Falle einer Gefangenschaft wäre dies fatal gewesen.
Die Natur der Brückenwelt ist auch nicht frei von gesundheitlichen Risken, obwohl die Welt – so gut es von außerhalb und durch die Agenten festgestellt werden konnte – mit hoher Wahrscheinlichkeit keine für mich gefährlichen potentiellen Krankheiten im Ökosystem verankert hat. Mehr würde mir wahrscheinlich das Klima und die Gesellschaft der Brücke, in die ich mich einschleusen lassen musste, zu schaffen machen.
Frauen sind zwar im Vergleich zu anderen Welten relativ frei und den Männern gleichberechtigt, nur hat dies durchaus auch seine Grenzen. Gerade der Brückenstaat zeichnete sich durch ein relativ starres Klassensystem und eine gewisse Rollenbildung der Geschlechter aus. Hier war Vorsicht geboten, weil die Geheimdienste nicht nur gegenüber den anderen Staaten, sondern auch im Innern höchst aktiv sind. Jemand mit zu ungewöhnlichen Ideen und Vorstellungen würde relativ schnell auffallen.
Eine raue Welt mit primitiven Zuständen, aktive Geheimdienste. Eine Brücke als surreal anmutender Zielpunkt – dies alles verursachte mir sowohl Lust auf das kommende Abenteuer, aber auch einige unbehagliche Gedanken. In wenigen Stunden würde ich mich auf dem direkten Weg dorthin befinden.
Epsilon 3, Wüstenkanten
Du achtest nicht auf mich.
Außer ich wehe in dein Gesicht.
Nimmst du mich, sickere ich durch
deine Hand. Ich bin Wüstensand.
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Wir werden von einem Modul der ‚Mausloch’ am Rande des Meeres in einer bizarren Wüstenlandschaft abgesetzt. Das gleiche Modul würde uns in frühestens einem Standardmonat wieder abholen – Drosden-Jetzow konnte es über ihren Sender ab diesem Zeitpunkt kontaktieren und ihm einen Treffpunkt übermitteln. Bis dahin aber waren wir auf uns gestellt.
Die Wüste wirkt wahrscheinlich deshalb so bizarr auf mich, weil es sich um eine Felswüstenlandschaft handelt, die den Eindruck macht, durch das Herabfallen von vielen Nadeln von oben geschaffen worden zu sein. So weit das Auge blicken konnte, Nadel um Nadel – manche höher, andere niedriger Wir waren in einem versteckten, winzigen Tal zwischen den rötlichgelben Sandsteinnadeln gelandet, ein idealer Landeplatz, um nicht aufzufallen.
Die Wüste ist ohne jede Vegetation und macht auf mich einen völlig verlassenen Eindruck. Leichter Wind weht und erzeugt in den vielen Ritzen, Rissen, Spalten und nadelscharfen Graten der Felsen leise Geräusche. Zwischen den vielen Nadeln liegt Sand in der gleichen Farbe wie die Felsen. Ein Himmel in einem nahezu unglaublichen Blau überspannt die Landschaft. Die Sonne steht noch tief, es ist früh am Morgen.
Drosden-Jetzow und ich hatten wieder einmal einen Krach gehabt. Mit ihr zu streiten ist wie mit einem Menschen. Sie ist so jähzornig und sturköpfig wie ich auch. Außerdem versucht sie immer wieder, das vernünftige Wesen herauszukehren und mich, die sich selbst für recht aufgeklärt hält, zu bevormunden. Begonnen hatte der Krach noch auf der ‚Erinnere Dich an morgen’. Sie war mit den Gegenständen erschienen, die wir mitnehmen sollten. Dazu gehörte auch die sehr strenge und formelle Kleidung, die mir als Tarnung dienen sollte. Als ich erfahren hatte, dass die Brückenwelt – zumindest der Teil der Welt, in dem wir landen sollten – eine Wüstenwelt ist, hatte ich nicht gedacht, dass gerade so relativ nebensächliche Dinge wie Kleidung für die Bewohner der Brückenwelt einen so nahezu philosophischen ebenso wie lebensbestimmenden Faktor darstellt.
Drosden-Jetzow kann sich natürlich aufgrund ihrer nichtbiologischen und sehr kompakten Hardware ausgezeichnet tarnen und unterliegt damit nicht den Einschränkungen, den biologische Wesen in einer Gesellschaft unterliegen. Aber dass, was auf der Brückenwelt – zumindest in diesem Teil der Republik – aktuelle Bekleidung für eine Adelige war, war jenseits aller Vernunft. Ich musste zwangsläufig eine Adelige darstellen, weil sonst die Tarnung aufgeflogen wäre. Kein Nichtadeliger hat auf der Brückenwelt die Mittel, über einen ganzen Kontinent zu reisen, schon gar nicht mit einem Führer.
Kurz gesagt, verlangte man von mir, etwas zu tragen, was mir als höchst unbequem und nicht der Wüste angepasst zu sein schien. In der Republik entsprach die aktuelle Mode – und wie schon gesagt, mehr als nur Mode, eher Statussymbol und vielleicht auch Kult – einer ziemlich weit zurückliegenden Periode. Frau
Fran Peterz
Wind des Universums
(A Reverse Bridge)
Eine Inner-Spaceopera
Originalausgabe
Ein Tribut an den Schöpfer ‚Der Brücke’ und ‚Der Kultur’,
Iain M. Banks
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Wind des Universums
Dort wo im Sommer der Mohn Felder bedeckt
Und der Wind nach Pflanzen und Staub schmeckt
Wo du über Schotter und Erde gehst
Und immer wieder staunend stehst
Roggen sich in der Brise bewegt
Und der Wind Fontänen vor sich hin weht
Dort – genau dort – weißt du
Dieser Sommer wird vorbei sein im Nu
Und so wie er schon ist im Vergehen
So wird auch dein Leben nicht lange bestehen
Stehen bleiben wird irgendwann dein Herz müssen
Doch mit bittrer Süße versehen ist dieses Wissen
Weil du weißt, bis zu deinem Ende wirst du erleben
Und deinen Geist zum unendlichen Universum erheben
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Verloren in Zeit,
Verloren in Raum,
Als wäre das Früher
Nur ein Traum.
Aber es ist nur
Verschüttet.
Und in deinem
Gedächtnis behütet.
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Staub fegte von den Bergen am Rande der Stadt. Staub, dessen Konsistenz an Ruß erinnerte. Nur dass dieser Ruß nicht schwarz, sondern rötlich gelbbraun war. Durch diese nicht enden wollenden Wolken ritten zwei Männer. Der eine war sehr groß mit breiten Schultern und muskulösen Armen. Seine langen, blonden Haare hingen ihm über die Schultern, wurden vom Wind aber immer wieder hochgewirbelt. Dies schien ihn nicht zu kümmern.
Der andere war wesentlich schmäler, hatte kupferfarbene Haare, die in langen, stark ausgeprägten Locken hinter seinem Kopf in einem Pferdeschwanz zusammen gefasst waren. Beide waren von der Wüstensonne verbrannt und hatten einen Bart, der zu beweisen schien, dass Rasur eine Sache ist, die zur Zivilisation gehört, nicht aber in die Wüste. Beide trugen eine Uniform, die zu einer Welt passte, die sich am Rande der Antike zu befinden schien: Röcke aus Leder, Beinschienen, Sandalen, Brustpanzer mit kurzer Unterbekleidung aus weißem Textil und dazu ein Helm aus Metallstreifen.
Als einzige ihrer Waffen waren ihnen die Schwerter verblieben, Schild und Speere waren am Schlachtfeld in der Wüste verloren. Sie waren vor einigen Monaten mit einem großen Heer aus der Provinzhauptstadt ausgezogen, um die Fremden zu stellen. Auf ihrem Planeten gab es in der ihnen bekannten Welt nur ein großes Reich und am Rande des Gesichtsfeldes dieses Reichs eine Vielzahl von Völkern, die nicht oder nur bedingt imstande waren, Reiche zu bilden. Kriegerische Konflikte blieben meist auf lokale Ereignisse beschränkt und ähnelten eher Polizeiaktionen als Kriegen.
Bis die Fremden kamen. Zuerst waren einigen Fischern leuchtende Steine aufgefallen, die sich über den Himmel bewegten, dann zeigte sich sogar über der Hauptstadt des Reiches ein großer Komet. Die Priester meinten, die Götter seien von ihrem Berg gestiegen. Als aber die Nachricht von der Besetzung der wichtigsten Handelsstadt im Osten des Reiches, Palmista, die Hauptstadt erreichte, setzte der Kaiser ein Heer in Bewegung. Dieses sollte die Fremden zumindest verjagen und die Handelsstadt zurückerobern.
Das Heer zog aus und nach einigen Tagen wurde die Stadt erreicht. Als aber die Generäle versuchten, die Fremden in der Stadt einzukesseln und ihr Luftschiff zu erobern, wurde das Heer von einem leuchtenden Sturm vernichtet. Wenige überlebten und zerstreuten sich in der Wüste, die die Stadt umgab. Die meisten aber – Pferde und Reiter, Fußsoldaten, Bogenschützen, Speerträger, Wagenführer, Offiziere – kamen um und ihre Körper bedeckten das Schlachtfeld. Es war ein sehr kurzer, ungleicher Kampf, dessen Waffen einerseits Plasmakanonen und Tötungsfelder, andererseits aber Speere, Pfeile und Schwerter gewesen waren.
Von Plasmakanonen und Tötungsfeldern wussten aber die beiden Männer, die in einer Welt der frühen Eisenzeit lebten, nichts. Sie hatten überlebt, in einer Welt, in der frühes Sterben so normal war, wie in der Welt der Fremden das Töten und Plündern. Die Angreifer waren eine Bande von Söldnern, die zufällig auf diesen Planeten gestoßen war und dort Beute suchte. Derartige Söldnerbanden waren nichts Außergewöhnliches – sie boten sich dem Meistbietenden an und übernahmen alle Aufgaben, die lohnend erschienen. Oft überfielen sie Handelsschiffe, die den lokalen Spiralarm der Galaxie befuhren. Genauso oft unternahmen sie Raubzüge, überfielen rückständige Planeten und belieferten mit der Beute einen Auftraggeber oder Händler, um zu überleben. Manche dieser Banden schreckten dabei vor nichts zurück, sicher aber nicht vor der Vernichtung eines ganzen Heeres.
Die beiden Männer schienen unschlüssig, wohin sie reiten sollten. Um sich vor den grellen und tötenden Lichtern zu retten, waren sie in die verlassene Stadt eingedrungen. Die Fremden – es schienen nur wenige, aber dafür sehr mächtige Wesen zu sein – waren am Rande der Stadt, dort wo die Berge Platz für eine Ebene ließen, um ihr Luftschiff geblieben und hatten von dort aus die Armee vernichtet.
Andere zuerst Überlebende hatten versucht, den gleichen Weg, den das Heer genommen hatte, zurückzukehren, waren aber dann vom aufsteigenden Luftschiff mit den grellen Lichtern verfolgt worden. Die beiden in der Stadt hatten mitangesehen, dass niemand entkommen war. In der Wüste vor der Stadt regierte das Schweigen des Todes. Die beiden Überlebenden waren durch einen Zufall in die Richtung der Stadt geraten und hatten dadurch den Tod vermieden.
Das Schiff war
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 02.12.2014
ISBN: 978-3-7368-6096-4
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