Als Jürgen vom Supermarkt kommend in die Straße einbog, in der seine Wohnung lag, blieb er für einen Moment stehen, schloss die Augen und genoss das Gefühl von Wärme, das die ersten Sonnenstrahlen des Tages auf der kalten Haut seines Gesichtes erzeugten. Seit Wochen war er unter starker Anspannung und hatte gar nicht bemerkt, dass der Jahrhundertsommer mit seiner andauernden Hitze, unter welcher Pflanzen, Tiere und Menschen gleichermaßen gelitten hatten, endgültig vorbei war und die Temperaturen spürbar gesunken waren. Nur so ließ sich erklären, dass er an diesem Morgen lediglich mit Jeansjacke und T-Shirt aus dem Haus gegangen war. Auf dem Hinweg zum Supermarkt konnte er der morgendlichen Kälte noch durch Eile entfliehen. Auf dem Rückweg ging das mit den schweren Einkaufstüten nicht mehr und er war erleichtert darüber, dass die Sonne endlich den deprimierenden Schatten der Berliner Mietshäuser verdrängt hatte und ihm direkt ins Gesicht schien. Dieser Moment, in dem er alles andere vergessen konnte und nur das Gefühl von Wärme empfand, währte jedoch nicht lange, da ihm die schweren Einkaufstüten langsam aber sicher das Blut aus den Fingern pressten. Im Supermarkt hatte er sich nur mit ein paar Lebensmitteln fürs Mittagessen eindecken wollen, war dann aber doch mit allerlei Leckereien aus dem Laden gegangen. An diesem Tag wollte er sich entspannen, es sich richtig gut gehen lassen, nach all den Monaten der Anspannung einmal komplett abschalten und wenigstens für einen Tag nicht an sein Vorhaben denken, bei dem so viel auf dem Spiel stand. Diese spontane Auszeit sollte mit einem umfangreichen Frühstück beginnen, dessen Zutaten er nun schleunigst in seine Wohnung bringen musste, bevor seine Arme noch länger wurden.
Vor der Haustür des Mietshauses, wo er wohnte, stellte er eine der beiden Tüten ab, um nach dem Hausschlüssel zu suchen. In genau diesem Moment klingelte sein Handy. Reflexartig griff er in die linke Hosentasche, hielt aber mitten in der Bewegung inne. Das war gar nicht sein Handy, das klingelte, sondern das kleine schwarze, das er für fünf Euro am Stutti in einem Import-/Export-Geschäft erstanden hatte; dieses einfache Mobiltelefon, mit dem man nur telefonieren und SMS empfangen konnte; das er immer bei sich trug, aber nie benutzte. Mit einem sehr schlechten Gefühl stellte er auch die andere Einkaufstüte auf den Boden und holte das besagte Handy aus der rechten Hosentasche. Es las die SMS, die den Klingelton verursacht hatte, und schloss die Augen. Verdammte Scheiße!
Er hatte gewusst, dass es jeder Zeit passieren konnte, dass es vielleicht sogar sehr wahrscheinlich war, dass es früher oder später passieren würde. Trotzdem traf ihn diese Nachricht völlig überraschend und zum völlig falschen Zeitpunkt. Er war sich in den letzten Wochen so sicher gewesen, es endlich geschafft zu haben. Doch mit dieser Nachricht war alles zunichte gemacht. Sie hatten das Spiel endgültig verloren. Gleichzeitig war klar, was nun getan werden musste. Sie hatten es mehrfach durchgesprochen und sich unzählige Male eindringlich geschworen, das Unvermeidliche zu tun, wenn es soweit käme, ohne Rücksicht auf den anderen. Dafür stand zu viel auf dem Spiel. Doch Jürgen zögerte. Er wollte nicht wahrhaben, dass zwei Worte mit einem Schlag seine Welt aus den Angeln heben konnten, dass mit einem Mal alles vorbei war und es nur noch darum ging, die eigene Haut zu retten. Verzweifelt schaute er ein zweites Mal auf die Nachricht. Nein, kein Zweifel, die SMS war eindeutig.
Hastig öffnete er die Tür und sprintete mit den Einkaufstüten in die erste Etage zu seiner Wohnung. Dort schmiss er die Tüten auf den Küchenboden und hastete weiter ins Schlafzimmer, wo er das unterste Fach des Schubladenschrankes aufriss und hinter der Wäsche nach einer Schachtel suchte. Die offene Schachtel in den Händen hielt er einen Moment inne und betrachtete den Inhalt. Wenn er diesen Inhalt an sich nahm, gestand er sich die Ausweglosigkeit seiner Situation ein. Dann war endgültig entschieden, dass er zum Äußersten greifen musste und es davon kein Zurück mehr gab. Es war eine schwere Entscheidung. Doch nach dieser Nachricht blieb ihm keine Wahl. Er nahm den Schlüssel und die Schusswaffe an sich, schnappte sich seine Jeansjacke im Flur und stürmte zur offenen Wohnungstür hinaus. Auf dem ersten Treppenabsatz machte er noch einmal kehrt und schloss die Wohnungstür ab. Dann ging es in schnellen Schritten die Treppe hinunter, zur Haustür hinaus und in der anderen Richtung die Straße entlang. In seiner Eile rempelte er einen Mann an. Entgegen seiner Art blieb er nicht stehen, um sich zu entschuldigen. Im Gegenteil, ohne auch nur eine Sekunde zurückzuschauen, lief er weiter bis zum Ende der Straße, wandte sich am Bahndamm nach links bis zu einem Durchgang und sprintete in der Mitte der Unterführung die Treppe hoch. Oben auf dem Bahnsteig blieb er zum ersten Mal, seitdem er aus dem Haus gerannt war, stehen.
Noch sieben Minuten. Das konnte doch nicht wahr sein! Er starrte verständnislos auf die Anzeige. Es war mitten am Tag und die nächste S-Bahn kam erst in sieben Minuten?! Hatte er gerade eine verpasst? Oder gab es wieder Betriebsprobleme bei der S-Bahn? Doch egal wie oft er auf die Anzeige starrte, es blieb bei den sieben Minuten. Jürgen versuchte sich zu beruhigen. Es machte keinen Sinn, woanders hinzurennen. Die S-Bahn war der schnellste Weg vom Priesterweg nach Prenzlberg. Mit dem Auto würde er durch die Innenstadt deutlich länger brauchen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als auf die nächste S-Bahn zu warten.
Um sich abzulenken, schaute er sich die anderen Fahrgäste an, die ebenfalls auf dem Bahnsteig warteten. Doch der Bahnsteig war fast leer, die Rush Hour offensichtlich längst vorbei. Lediglich ein paar Leute, die aussahen, als müssten sie zum Arzt oder einen Behördengang erledigen, warteten mit ihm auf die S-Bahn. Ein stinknormaler Donnerstagvormittag, dachte sich Jürgen, als sein Blick wieder zu der Stelle wanderte, an der er vor einer Minute den Bahnsteig betreten hatte. Ein Mann im Trenchcoat kam die Treppe hoch. Ihre Blicke kreuzten sich. Der Mann machte ein grimmiges Gesicht und schaute schnell weg, als wollte er jeglichen Blickkontakt vermeiden. Jürgen lief es eiskalt den Rücken herunter. Wurde er bereits beschattet?
Intuitiv drehte er sich um und ging in die andere Richtung des Bahnsteigs, möglichst weit weg von dem Agenten. Doch schnell wurde ihm klar, dass dies keine besonders schlaue Strategie war. Der Typ würde ihn verfolgen, egal wo er hinginge. Zu Fuß konnte er ihn unmöglich abschütteln. Außerdem musste er unbedingt die S-Bahn nach Prenzlberg nehmen. Er stellte sich neben eine Anzeigentafel, um den Agenten unauffällig zu beobachten. Der Typ war ihm weiter den Bahnsteig entlang gefolgt, hatte sich nun aber so hingestellt, als ob er auf die S-Bahn warten würde. Damit war sich Jürgen sicher: Der Typ verfolgte ihn und weglaufen würde nichts bringen. Er musste einen anderen Weg finden, den Typen loszuwerden. Er überlegte fieberhaft, wie das gehen sollte. Dann kam die S-Bahn. Und Jürgen hatte Glück.
Vor dem Typen und ihm hielten verschiedene S-Bahn-Waggons, zwischen denen kein Übergang während der Fahrt möglich war. Trotzdem ging Jürgen sicherheitshalber einen Waggon weiter, um möglichst viel Abstand zwischen ihm und dem Agenten zu schaffen. Doch in letzter Minute wechselte der Typ in den anderen Waggon, um im gleichen Zugabschnitt wie Jürgen zu sein. Wenn es noch eines Beweises bedurfte, hatte Jürgen ihn hiermit. Der Typ beschattete ihn und tat alles, damit er ihn nicht abschütteln konnte. Nun stand der Typ zwar an der Tür und tat so, als ob er seine Zeitung lesen würde. Jürgen allerdings wusste genau, was dieser Mann wirklich in Schilde führte. Ihm wurde flau im Magen.
Die S-Bahn-Fahrt würde ungefähr eine halbe Stunde dauern. Solange hatte Jürgen Zeit, sich etwas zu überlegen. Er holte das Handy raus und las ein drittes Mal die Nachricht, die er an dem Morgen bekommen hatte. ‚Sind aufgeflogen‘, stand da. Erst jetzt wurde ihm klar, was diese zwei Worte alles bedeuten konnten, von ‚sie sind uns auf der Spur‘ bis ‚sie wissen alles und sind schon hinter dir her‘. Offensichtlich wollte ihm sein Komplize Letzteres sagen. Aber wie viel sie wussten, ging aus der Nachricht nicht hervor. Er überlegte, ob er nachfragen sollte, was genau seine Verfolger wussten. Doch das könnte ein fataler Fehler sein. Vielleicht hatten sie den Komplizen erwischt und lasen alle Nachrichten mit. Vielleicht orteten sie sogar Jürgens Handy und konnten ihn deswegen beschatten. Sofort nahm er die SIM-Karte aus dem Telefon und ließ sie auf den Boden fallen. Dann hob er sie wieder auf und steckte sie in die Hosentasche, falls er sie doch noch einmal brauchen würde. Was auch immer wirklich passiert war, er musste sehr vorsichtig sein und vor allem seinen Schatten loswerden. Der stand weiterhin zwei Türen weiter und tat so, als ob er in seine Zeitung vertieft wäre und sich nicht für seine Umwelt interessieren würde.
Jürgen dachte die ganze Fahrt intensiv darüber nach, wie er den Typen abschütteln konnte, hatte aber keine zündende Idee. Als er am Gesundbrunnen in die S41 umstieg, war der Typ weiterhin an ihm dran. Also fuhr er in der S41 absichtlich zwei Stationen weiter als sein eigentliches Ziel und rannte dort, so schnell er konnte, die Treppe hoch, überquerte eine Straße und lief auf der anderen Seite die Treppe wieder runter zum Bahnsteig, um in der Gegenrichtung zurückzufahren. Und dieses Mal musste er auch nicht lange auf die nächste S-Bahn warten. Zu seiner Überraschung stieg sein Verfolger zwar aus und ging die Treppe hoch, rannte ihm aber nicht hinterher zurück zum Bahnsteig. Wahrscheinlich wäre das zu auffällig gewesen, dachte sich Jürgen. Vielleicht wurde er auch von mehreren Agenten verfolgt und ein anderer übernahm nun seine Beschattung. Um sicher zu gehen, dass kein zweiter Agent ihm auf den Fersen war, stieg er bereits die nächste Station aus und ging viele Umwege. Regelmäßig schaute er sich möglichst unauffällig um, ob er noch verfolgt wurde. Er konnte nichts erkennen. Am Fröbelplatz war er schließlich der Meinung, seine Verfolger endgültig abgeschüttelt zu haben, und ging geradewegs in Richtung seines Ziels. Er war ein bisschen erleichtert, doch die Erleichterung währte nicht lange.
Als Jürgen in die Zielstraße einbog, sah er etliche Streifenwagen und Polizisten, die zwischen einem Hauseingang und den Streifenwagen hin- und herliefen. Zuerst glaubte er, die Polizei würde sich für ein anderes Haus interessieren, doch je näher er kam, desto klarer wurde ihm, dass sie wegen ihm da waren und gerade die Wohnung durchsuchten, in der er alle Beweise vernichten wollte. Damit war er ganz sicher am Arsch! Die würden genug finden, um ihn lange hinter Gitter zu bringen. Während er fieberhaft überlegte, was er nun tun sollte, fiel sein Blick auf einen Polizisten vor dem Haus, der in seine Richtung schaute. Jürgen war noch mehrere hundert Meter von dem Polizisten entfernt und größtenteils durch die vielen parkenden Autos verdeckt. Doch er wurde das Gefühl nicht los, der Polizist schaute genau ihn an und war sich nur noch nicht hundertprozentig sicher, ob es sich bei Jürgen um die gesuchte Person handelte. Jürgen bekam Angst und musste sich schleunigst etwas einfallen lassen, wenn er nicht den Rest seines Lebens in einer Zelle verbringen wollte. Weglaufen war keine schlaue Option, da ihn das nur verdächtiger machen würde und er mit seiner unsportlichen Figur kaum eine Chance hätte, ein Wettrennen mit der Polizei zu gewinnen. Einfach weitergehen hingegen würde ihn dem Polizisten näherbringen und diesem genug Zeit geben, sich zu vergewissern, ob es sich tatsächlich um die gesuchte Person handelte. Er brauchte dringend eine geniale Idee.
Instinktiv sprach er eine Frau an, die ihm entgegen kam. Sie schob einen Kinderwagen mit einem Kleinkind vor sich her und trug einen vollgepackten Rucksack auf dem Rücken, in dessen Außentaschen Sandkastenschaufeln steckten. Offensichtlich wollte sie zum Spielplatz.
„Entschuldigung!“
Die Frau blieb stehen und schaute Jürgen erwartungsvoll an, der erst überlegen musste, was er sagen sollte. Er hatte die Frau nur angesprochen, um die Aufmerksamkeit des Polizisten loszuwerden, von der Frau wollte er gar nichts. Doch nun musste er sie in irgendein Gespräch verwickeln, das für einen Beobachter nicht verdächtig wirkte. Schließlich fiel ihm nichts Besseres ein, als nach dem Weg zu fragen.
„Wo geht es zur Danziger Straße?“
Jürgen hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Was für eine blöde Frage! Und prompt passierte, was auf Grund der Frage zu befürchten war. Die Frau drehte sich um und zeigte in die Richtung des Polizisten:
„Zur Danziger Straße geht es da lang. Sie müssen nur zwei Häuserblöcke weitergehen und dann ist es die große Querstraße, wo auch die Straßenbahnen lang fahren.“
Die Frau war glücklich, dem Mann geholfen zu haben, während sich Jürgen gedanklich in den Hintern trat. Um nicht verdächtig zu wirken, falls der Polizist ihn immer noch beobachtete, hätte er nun in dieser Richtung weitergehen müssen, auf den Polizisten zu, was er unter keinen Umständen machen durfte.
„Und die S-Bahn-Station Prenzlauer Allee?“
Die Frau schaute ihn verwundert an.
„Das ist in der anderen Richtung“, sagte sie, ohne den Arm zu heben. So konnte der Polizist jedoch nicht erkennen, dass sich Jürgen plötzlich für eine andere Richtung interessierte. Also hob er demonstrativ seinen Arm und fragte nach:
„Das heißt, in diese Richtung?“
Die Frau schaute ihn ein bisschen entgeistert an, weil das doch offensichtlich war.
„Ja, wie gesagt, in der anderen Richtung. Am Ende der Straße treffen sie allerdings auf die Bahntrassen und müssen erst noch ein Stück nach rechts bis zur Station gehen. Aber der Weg zur Danziger Straße ist viel kürzer. Und von dort fahren die Straßenbahnen auch zur S-Bahn.“
„Okay, vielen Dank! Ich bevorzuge trotzdem die S-Bahn“, antwortete Jürgen und hob die Hand zum Dank möglichst weit hoch, damit die Geste auch über die Autos hinweg zu sehen war.
Er hatte keine Ahnung, ob das kleine Schauspiel funktioniert hatte und das Interesse des Polizisten an ihm verschwunden war. Doch er traute sich nicht, in dessen Richtung zu schauen. Selbst wenn das Ablenkungsmanöver erfolgreich gewesen war, könnte ein flüchtiger Blick in Richtung des Polizisten alles wieder kaputt machen. Also ließ er die Frau verwundert stehen und ging schnellen Schrittes in die andere Richtung, innerlich betend, dass ihn kein Polizist verfolgte.
An der nächsten Ecke bog er in die Seitenstraße ab. Das passte zwar nicht hundertprozentig zu den eben gespielten Gesten, damit war er jedoch aus dem Blickfeld des Polizisten und konnte Gas geben. Wenn sein Schauspiel nicht funktioniert hatte und die Polizisten hinter ihm her waren, musste er so schnell wie möglich abhauen. Er nutzte jede Querstraße, um aus den Augen eines möglichen Verfolgers zu entschwinden. Er lief auch nicht bis zur S-Bahn-Station Prenzlauer Allee, falls die Polizisten die Frau befragten, wohin er gewollt hatte, sondern auf vielen Umwegen bis zur weiter entfernten, aber dafür ruhigeren U-Bahn-Station Vinetastraße und fuhr zur S-Bahn-Station Pankow, um sich von dort wieder in die Innenstadt zu begeben. Nachdem das Versteck aufgeflogen war, gab es nur noch einen Ort, der ihn retten konnte.
Zwanzig Minuten hatte er Zeit, darüber nachzudenken, was eben passiert war und was das für sein Vorhaben bedeutete, bis er am Savignyplatz ankam und mit einem sehr unangenehmen Gefühl zu seinem letzten Ziel ging. Diesmal war alles viel friedlicher als im Prenzlberg. Vor dem Haus, in das er wollte, standen keine Streifenwagen oder liefen Polizisten ein und aus. Im Gegenteil, es waren kaum Leute auf der Straße. Doch das machte ihn misstrauisch.
Hatte die Polizei diesen Ort noch nicht entdeckt oder hielten sie sich nur versteckt, um ihn in falscher Sicherheit zu wiegen und zu verhaften, sobald er auftauchte? In der Wohnung im Prenzlauer Berg gab es keinerlei Hinweise auf dieses Haus. Doch sein Komplize, der ihn gewarnt hatte, kannte diese Wohnung. Wenn er bei der Polizei gesungen hatte, wussten die Bullen über diese Wohnung Bescheid und alles war verloren. Doch welche Alternative hatte Jürgen? Diese Wohnung war seine allerletzte Chance, um aus dieser Situation irgendwie wieder heil herauszukommen. Er musste das Risiko eingehen.
Langsamen Schrittes ging er auf das Haus zu, den Blick ängstlich auf den Boden vor ihm gerichtet. Er wollte nicht wissen, ob irgendjemand in einem Auto saß oder in irgendeinem Hauseingang stand und ihn beobachtete, ob er bereits von einem Polizisten in Zivil verfolgt wurde, der ihn gleich zu Boden werfen würde, während ein Polizeiwagen mit Blaulicht um die Ecke kam. Das alles wollte er nicht wissen. Es wäre ohnehin zu spät, um zu entkommen. Mit einem Tunnelblick ging er geradewegs auf das Haus zu und erreichte es, ohne dass ein Fahnder zwischen den Autos hervorsprang und laut „Polizei, Sie sind festgenommen“ schrie.
Vor dem Hauseingang, wo er notgedrungen den Rücken zur Straße drehen musste, um die Eingangstür aufzuschließen, fühlte er sich besonders hilflos. In dieser Situation konnte ihn ein Angreifer unbemerkt von hinten überwältigen. Dementsprechend hektisch holte er den Schlüssel aus der Tasche und versuchte, die Tür aufzubekommen. Nach mehreren Versuchen hatte er es endlich geschafft und konnte voller Erleichterung im Hauseingang verschwinden. Die erste Hürde war genommen, er war drinnen.
Drinnen war ein typischer Berliner Hausdurchgang, breit genug damit ein Auto durch das Vorderhaus in den Hinterhof fahren konnte. Links ging eine Treppe hoch in die Etagen des Vorderhauses. Trotz der Mittagszeit war es im Durchgang dunkel. Sowohl das Tor zur Straße als auch das zum Innenhof hatte keine Fenster, lediglich die Fenster des Treppenhauses ließen etwas Licht in den Durchgang. Und es war ruhig. Niemand war zu sehen oder zu hören. Erneut erschien Jürgen diese Ruhe verdächtig. In so einem großen Mietshaus war doch immer etwas los. War das Zufall oder erwartete ihn das SEK beim Betreten der Wohnung? Er war so nervös, dass ihm der Hausschlüssel aus der Hand fiel und er in die Hocke gehen musste, um ihn wieder aufzuheben. Dort verharrte er für einen Moment. Er hatte kaum noch Kraft, sich wieder aufzuraffen. Am liebsten wäre er nach Hause gerannt. Doch dort erwartete ihn garantiert die Polizei. Er schluckte mehrfach und tat dann das Unvermeidliche. Er richtete sich wieder auf und stieg die Treppe hinauf.
Auf den letzten Stufen zur zweiten Etage blieb er plötzlich wie angewurzelt stehen. Die Wohnungstür stand offen, die Tür zu der Wohnung, in der seine Rettung lag! Fieberhaft überlegte er, was das bedeutete und was er nun tun sollte, doch er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er verspürte nur noch Angst. Dann hörte er Schritte von oben. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er musste so schnell wie möglich von der Treppe verschwinden, aber nicht ohne das Paket aus der Wohnung zu holen. Die Schritte kamen näher, seine Gedanken überschlugen sich, ohne eine Lösung zu finden, bis er keine andere Wahl mehr sah und in die Wohnung sprang, um sich hinter der Tür zu verstecken. Mit zittriger Hand zückte er seine Waffe und entsicherte. Währenddessen erreichten die Schritte den Treppenabsatz der Wohnung, gingen aber in gleichmäßigen Schritten weiter die Treppe hinunter. Jürgen atmete erleichtert auf. Doch da war schon das nächste Problem. Er war in die Wohnung gestürmt, ohne sich zu vergewissern, dass niemand anders in der Wohnung war. Vielleicht erwartete ihn nicht die Polizei, sondern ein Auftragskiller, der alle Spuren beseitigen und ihm mit einer Pistole und Schalldämpfer erledigen sollte. Er hatte zwar eine Waffe in der Hand und auch auf dem Schießplatz etwas geübt, doch gegen einen Auftragskiller hätte er keine Chance. Sein Puls stieg zu neuen Höhen und die Halsschlagader drohte zu platzen.
Vor lauter Angst wollte er aus der Wohnung rennen, doch in dieser Wohnung war das Paket, das er so dringend brauchte. Wie der Hausdurchgang war auch die Wohnung typisch für Berlin. Von einem geraden Flur gingen die Zimmer ab, rechts Badezimmer, Küche und Schlafzimmer, links Arbeitszimmer und großes Wohnzimmer. Das Arbeitszimmer war sein Ziel, nur wenige Schritte entfernt. Aber er wusste weiterhin nicht, ob er allein in der Wohnung war. Er horchte. Nichts zu hören. Minutenlang. Die Wohnung zu durchsuchen, war zu gefährlich. Er wollte nur das Paket. Also ging er auf Zehenspitzen mit der Waffe im Anschlag die wenigen Schritte zur Tür des Arbeitszimmers und schaute vorsichtig hinein: niemand zu sehen. Das war seine Chance: Paket schnappen und abhauen! Vor der Schwelle zum Zimmer hielt er jedoch inne. Der Boden des Altbaus bestand aus alten Dielen, wie bei den meisten Altbauten. Im Flur und im Wohnzimmer hatte man Teppich gelegt, aber nicht im Arbeitszimmer. Wenn man im Arbeitszimmer auf die falsche Stelle trat, knarzten die Dielen. Das war ihm früher egal gewesen, im Gegenteil, das Knarzen hatte den Charme der billigen Wohnung ausgemacht. Heute könnte ihm das Knarzen das Leben kosten. Sehr behutsam setzte er einen Fuß nach dem anderen auf dem Boden auf und vermied die mittleren Dielen, die seiner Erinnerung nach besonders lauten Krach gemacht hatten. So schaffte er es, ohne einen Laut zu erzeugen, bis zur Kommode. Dort steckte er die Waffe wieder in die Jackentasche, schob die Kommode ganz vorsichtig von der Wand weg und griff nach dem kleinen Paket, das hinter der Kommode festgeklebt war. Ihm fiel ein Stein vom Herzen: Das Paket war noch da und er konnte es endlich an sich nehmen. Dann horchte er wieder. Immer noch kein Laut in der Wohnung.
An der Zimmertür schaute er ganz vorsichtig in den Flur. ‚Jaaah!‘, hätte er beinahe ausgerufen, ‚Ich habe es geschafft! Nur noch abhauen.‘ In diesem Moment trat er mit seinem gesamten Gewicht auf die Schwelle der Zimmertür und die Diele leistete ganze Arbeit: Das Knarzen war überall in der Wohnung zu hören, wahrscheinlich sogar im Treppenhaus. Nun herrschte die reine Panik. Er stürmte zur Wohnungstür, riss sie so heftig auf, dass die Wände zitterten, als die Tür gegen die Wand schlug, und rannte die Treppe hinunter. Dabei nahm er mit jedem Schritt jeweils zwei Stufen und musste sich am Geländer festhalten, um nicht hinzufallen. Auf dem letzten Zwischengeschoss verfehlte seine Hand in der Eile knapp das Geländer, so dass er die Kurve nicht mehr schaffte, auf die Knie fiel und mit der Schulter gegen die gegenüberliegende Wand knallte. Dabei spürte er nicht nur einen fürchterlichen Schmerz in der Schulter, sondern ließ auch das Paket aus der Hand fallen, welches daraufhin die Treppe hinunterkullerte. In seiner Panik sprang er sofort hinterher und rutschte auf dem Bauch die Treppenstufen hinab, die Hand ausgestreckt, um das Paket zu greifen. Erst am Ende der Treppe hatte er das Paket, von dem sein Leben abhing, endlich wieder in den Händen.
Trotz unzähliger Schmerzen in der Schulter, am Bauch, an den Knien und den Ellenbogen raffte er sich wieder auf und schleppte sich zur Haustür. Das letzte Fünkchen Verstand, das noch zu seinem vernebelten Bewusstsein durchdringen konnte, sagte ihm, dass er sich auf der Straße möglichst normal verhalten sollte, um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. Also richtete er sich auf, soweit dies seine Schmerzen zuließen, und wendete sich, den Blick stur auf den Boden gerichtet, vor der Haustür direkt nach rechts. Sein Schritt war für einen normalen Passanten etwas zu schnell, vielleicht würde ein Beobachter an Hand seines Schrittes die Panik erkennen, die ihn immer noch beherrschte. Doch diese Feinheiten waren ihm egal, er wollte nur noch weg. An der nächsten Straßenkreuzung bog er ab und lief im Zickzack durch das Viertel, um es einem möglichen Verfolger zu erschweren, unentdeckt an ihm dran zu bleiben. Ob er wirklich verfolgt wurde, prüfte er erst fünf Straßen später. Es war niemand zu sehen. Er bog noch mehrere Male in Querstraßen ab und prüfte jedes Mal, ob er verfolgt wurde. Dann erst suchte er in irgendeinem Innenhof hinter einem Schuttcontainer Deckung und sank dort schließlich völlig erschöpft zu Boden.
Er wusste nicht, wie lange er hinter dem Schuttcontainer gelegen hatte. Sicher war er sich angesichts seiner Schmerzen allerdings, dass er dringend in ein Krankenhaus musste. Die Schulter tat höllisch weh und die anderen Schmerzen waren kaum leichter zu ertragen. Am liebsten hätte er sich keinen Zentimeter mehr bewegt und den Notarzt gerufen. Aber er hatte immer noch das Paket in den Händen. Wenn er das Paket nicht ablieferte, wären alle Schmerzen umsonst gewesen. Er musste aufstehen, er musste sich weiterschleppen und er musste um jeden Preis, egal wie groß seine Schmerzen waren, das verdammte Paket loszuwerden.
Zwanzig Minuten später kam er aus einem Schreibwarenladen und hatte alle Sachen gekauft, die er brauchte: einen kleinen Schreibblock, einen Stift, einen gefütterten Briefumschlag und ausreichend viele Briefmarken. Die Frau hinter der Kasse hätte er beinahe mit seiner Waffe erschossen. Nicht nur, dass sie ihn immer wieder gefragt hatte, ob sie einen Arzt rufen sollte, sie hatte auch nicht genau gewusst, wie viele Briefmarken für das Paket notwendig waren und hatte endlos in irgendwelchen Listen gesucht. Einmal hatte er sogar in seiner Verzweiflung nach seiner Waffe in der Jackeninnentasche gegriffen. Vielleicht hatte diese Handbewegung die Verkäuferin dazu bewogen, ihm schließlich mehr Briefmarken als notwendig zu geben. Nun musste er nur noch das Paket umfüllen.
Schnell entfernte er sich von dem Schreibwarenladen, falls die Verkäuferin nach dem Verlassen des Ladens doch noch einen Notarzt oder schlimmer noch die Polizei verständigt hatte. Er ging wieder im Zickzack zu einem Park in der Nähe, den er noch von früher kannte. Dort hatte er regelmäßig unter den Bäumen gesessen und über die nächsten Schritte nachgedacht. Doch am Park angekommen hatte er kein gutes Gefühl. Auf der Parkbank konnte er von überall gesehen werden. Ein Innenhof war folglich die bessere Alternative, wenn er sich hinsetzte, um den entscheidenden Brief zu schreiben. Ein passender Innenhof war schnell gefunden und der Brief kurze Zeit später verfasst. Angesichts der Schmerzen hatte er ohnehin nicht mehr die Kraft einen wohlklingenden Text zu schreiben, was eigentlich sein Steckenpferd war. Er schrieb nur die wichtigsten Informationen auf. Dann nahm er den USB-Stick aus dem Paket, das er aus der Wohnung geholt hatte, und legte Brief und Stick in den Briefumschlag. Schließlich schrieb er die Zieladresse auf dem Umschlag und klebte alle Briefmarken drauf.
Schweren Schrittes, aber im Bewusstsein, es fast geschafft zu haben, ging er zum nächsten Briefkasten. Während er sich vorwärts schleppte, schossen ihm unzählige Gedanken durch den Kopf. War es das alles wert gewesen? Hätte er damals damit angefangen, wenn er gewusst hätte, wo das alles enden würde? Hatte er seine Gegner völlig unterschätzt? War das eine Nummer zu groß für ihn? Oder würde er es wieder tun, weil er diese Typen abgrundtief hasste, weil diese Typen so arrogant waren, dass sie glaubten, sie könnten sich alles erlauben? Am Briefkasten angekommen, öffnete er den Schlitz und las ein letztes Mal die Zieladresse, bevor er den Brief einwarf: Generalbundesanwalt, Karlsruhe. Dann war der Brief im Kasten verschwunden und ihm blieb nur noch die Hoffnung, dass wenigstens die Bundesjustiz in Deutschland noch funktionierte. ‚Sonst‘, war sein letzter Gedanke, während er sich zurück zum Park begab, um von dort ein Taxi ins Krankenhaus zu nehmen, ‚bin ich und dieses Land sowieso verloren!‘
Texte: Stefan Bussmann
Cover: Stefan Bussmann
Tag der Veröffentlichung: 26.01.2020
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