Friedrich Spielhagen
Edition Klassik
Cover unter Verwendung eines Motivs von Edouard Manet
Das wahre Schicksal der Ehebrecherin Elisabeth von Plotho hat zwei der bedeutendsten deutschen Schriftsteller ihrer Zeit zu Romanen angeregt: Theodor Fontane zu seiner „Effi Briest“, Friedrich Spielhagen zu „Zum Zeitvertreib“.
Spielhagen, ein liberaler, demokratischer Geist, war zu seiner Zeit bekannter als Fontane. Seine aufrichtige Haltung und sein unbestechlicher Blick fand auch bei politischen Gegnern wie Bismarck Anerkennung, literarisch ist er Vorläufer der Berliner Moderne.
Fontane wandelte das Ehebruchmotiv gegenüber der historischen Wirklichkeit stark ab, Spielhagen blieb sehr viel näher dran, und zwar bewusst. Denn „Zum Zeitvertreib“ erschien später als „Effi Briest“. Fontane macht aus dem Stoff eine Art Gretchentragödie seiner Zeit; Spielhagen dagegen wollte der Gesellschaft den Spiegel vorhalten. Über die „arme Effi“ ist schon manche Träne vergossen worden, bei Klotilde dürfte das eher selten vorkommen – dafür erfährt man durch Spielhagen mehr über die gesellschaftliche Wirklichkeit im Fin de siècle. Vor allem spielt bei ihm die Frau eine viel stärkere Rolle: die der Femme fatale …
Jetzt nur noch die Speisekammer, rief Adele, von der Küche aus eine schmale, niedrige Tür nach einem winzigen Gelaß öffnend, das durch ein viereckiges, vergittertes Fensterchen spärlich erhellt wurde.
Bewunderungswürdig, sagte Klotilde mit einem gelangweilten Blick über die Schulter der Freundin.
Nicht wahr? erwiderte Adele, sich so schnell wendend, daß Klotilde eben nur noch ihr Gähnen verbergen konnte. Zwölf Fuß im Quadrat – nicht mehr – Elimar hat es ausgemessen. Und alles darin untergebracht – selbst die zwanzig Einmachebüchsen, die mir die gute Mama gestern geschickt hat! Aber Eure Berliner Baumeister habe ich doch auf dem Strich. Alles für den äußeren Schein: Keine Spur von einem Verständnis für das, was eine Hausfrau braucht. Na! nun wollen wir wieder nach vorn gehen. Das heißt, erst mußt Du mein Kleid für heute abend sehen. Bei der Gelegenheit kann ich Dir gleich auch noch unser Schlafzimmer zeigen. Elimar mag das zwar nicht. Er findet es undelikat. Ich weiß nicht, warum. Dabei ist doch nichts Schlimmes. Meinst Du nicht auch?
Gewiß nicht, sagte Klotilde, honni soit qui mal y pense.
Nicht wahr? Besonders wenn wir Frauen unter uns sind. Und nun gar wir beide! Lieber Gott, wir haben doch keine Geheimnisse vor einander! Ach, Klotilde, wenn ich Dich nicht hier hätte in diesem gräßlichen Berlin! Freust Du Dich nicht auch, daß wir nun wieder beisammen sind?
Ob ich mich freue! Also das ist Euer Schlafzimmer?
Das ist unser Schlafzimmer! Klein, aber furchtbar nett. Findest Du nicht? Und Morgensonne, sagt der Wirt, haben wir auch. Na, in den acht Tagen, daß wir hier sind, hat noch keine geschienen; und Elimar ist zweifelhaft, ob sie, wenn sie mal scheint, bis zu uns kommt – im Hochsommer, meint er, wäre es möglich. Abwarten, sage ich. Na, wie findest Du es? Das Kleid, meine ich.
Dein Brautkleid!
Also doch!
Also was?
Ich dachte, Du würdest es nicht wiedererkennen. Ich habe es nämlich während der zwei Jahre schon sechsmal angehabt – zuletzt auf dem Kommandanturball – und jedesmal ein bißchen verändert. Das heißt: diesmal nicht – ich hatte keine Zeit. Meinst Du, daß es noch geht?
Die Damen standen vor dem Bett, über welches das Kleid gebreitet war.
Das heißt: es muß gehen, fuhr Adele eifrig fort, während Klotilde hier und da einen Zipfel musternd aufhob; ich habe kein anderes.
Dann ist die Sache ja erledigt, sagte Klotilde lächelnd.
Ganz meine Ansicht! rief Adele. Mein Gott, von einer armen Hauptmannsfrau kann man doch nicht verlangen, daß sie wie eine Prinzessin ausstaffiert ist, besonders wenn man eben einen kostspieligen Umzug durchgemacht hat. Ich deutete so etwas gegen Frau Sudenburg an, und weißt Du, was sie erwiderte: Die Tochter meiner besten Freundin ist mir in jedem Kleide willkommen. War das nicht furchtbar nett von ihr. Was wirst Du denn anziehen?
Meine Auswahl ist nicht viel größer als Deine: arme Hauptmanns- und arme Assessorenfrauen – c'est toute la même chose.
Ich denke, Dein Viktor steht dicht vor dem Regierungsrat?
Dann haben wir was Rechtes. Aber Kind, es ist Zeit, daß ich nach Hause komme.
Eile doch nicht so! Ich habe mich die ganzen gräßlichen acht Tage auf diese Stunde gefreut. Und bin Dir so dankbar, daß Du gleich heute morgen angetreten bist, nach der langen Nachtfahrt.
Es war nicht so schlimm, bloß schauderhaft langweilig.
Habt Ihr Euch gut amüsiert?
Amüsiert? In dem miserablen Ostseenest? Vier Wochen lang dieselben Alltagsgesichter: shopkeepers, Weiber aus Berlin O., und, wenn es hoch kam, eine pommersche oder mecklenburgische dicke Gutsbesitzerfrau.
Das wird für Viktor auch nicht gerade etwas gewesen sein.
Viktor? Er hat mich bloß hingebracht und wieder abgeholt. Die ganze übrige Zeit in Kopenhagen, Stockholm und ich weiß nicht wo. Du kennst ihn doch. Die Rosinen in dem Kuchen kommen immer auf sein Teil.
Aber den Kindern ist es doch gut bekommen?
Hoffentlich.
Ich freue mich so furchtbar darauf, sie endlich einmal zu sehen. Nach den Photographien, die Du mir geschickt hast, müssen es wahre Engel sein.
Ich kann es nicht finden. Du wirst Dich ja morgen überzeugen. Ich muß jetzt wirklich fort. Viktor kommt um vier Uhr aus dem Amt.
Elimar schon um Drei. Er muß gleich hier sein. Er wird mir es nicht vergeben, wenn ich Dich fortgelassen habe – seine alte Flamme!
Warum hat er dann Dich geheiratet?
Du hattest es gar so eilig, unter die Haube zu kommen. Weißt Du übrigens, daß Kurt Platow nun doch die Comtesse Gardewitz heiraten wird?
Ich wüßte nichts, was mir gleichgültiger wäre.
Hast recht, Schatz! Schwamm drüber! Ganz meine Maxime. Wenn mir irgend was gegen den Strich gegangen ist – Schwamm drüber! Das konserviert die gute Laune.
Und die glänzenden Augen und die rosigen Backen. Sieh mich einmal an! Wahrhaftig, ich sehe zehn Jahre älter aus als Du.
Sie standen vor dem hohen Stellspiegel – dem einzigen, einigermaßen prunkhaften Möbel in dem sonst bis zur Nüchternheit bescheidenen Gemach – und betrachteten prüfend ihre Bilder: Klotilde ernst, mit einem Fältchen zwischen den dunklen, scharf gezeichneten Brauen; Adele lachend, daß die weißen Zähne durch die vollen, roten Lippen blitzten.
Zehnmal vornehmer, ja! rief sie. Kunststück! Du mit Deiner hohen, schlanken Gestalt! Ich glaube, Du bist in der Ehe noch gewachsen! Beinahe einen Kopf größer als ich! Sag' mal, Schatz! Du richtest wohl jetzt noch fürchterlichere Verwüstungen in der Männerwelt an, als schon damals?
Du bist nicht gescheit! sagte Klotilde, den Arm, welchen die andere um ihre schlanke Taille gelegt hatte, zurückschiebend.
Ich habe es nicht bös gemeint.
Und ich es Dir nicht übelgenommen. Komm! Meine Sachen liegen, glaube ich, in Deinem Zimmer.
Die Damen waren nach Adelens Zimmer zurückgekehrt; Adele half Klotilden in den Paletot.
Es ist kalt draußen?
Für den ersten Oktober schauderhaft. Zieh' Dich nur heute abend warm an!
Weißt Du, Klotilde, ich fürchte mich ordentlich vor heute abend. Du nicht noch zur rechten Zeit gekommen wärest, ich glaube, ich hätte noch in der letzten Stunde abgesagt.
Als ob es die erste Gesellschaft wäre, die Du mitmachst!
Aber die erste in Berlin!
Wo es genau so ist, wie in Magdeburg und überall: Assessoren, Regierungsräte, Geheimräte und so weiter; Lieutenants, Hauptleute, Obristen und so weiter – immer dieselben stereotypen Gesichter; immer dieselben stereotypen Redensarten. Es ist zum Verrücktwerden. Was machst Du so ein kleines, dümmliches Gesicht?
Daß ich Dich so reden höre! Und ich denke, Du schwimmst hier in Glück!
Um Klotildens feine Lippen zuckte ein bittres Lächeln.
Sei Du erst vier Jahre verheiratet, sagte sie, Adelens volle Wange leicht berührend, dann wollen wir uns wieder sprechen.
Und wenn wir hundert Jahre verheiratet wären, würden wir höchstens noch hundertmal glücklicher sein; bloß daß es nicht möglich ist.
Ja, Du und Dein Elimar!
Du meinst, wir könnten nicht die Ansprüche machen?
Das habe ich weder gesagt, noch gedacht. Es wäre auch sehr dumm, wenn ich es gedacht hätte. Ich wüßte nicht, welche Ansprüche ich vor Dir voraus geltend machen könnte, oder Viktor vor Deinem Manne; besonders jetzt, wo er in das Kriegsministerium berufen ist und zweifellos eine glänzende Karriere machen wird.
Die Damen standen in der geöffneten Tür, Klotilde bereits halb auf dem schmalen, dunklen Flur. Aber sie machte keine Anstalt zum Gehen, sondern blieb unbeweglich, nachdenklich vor sich nieder blickend. In Adelens Herzen regte sich eine peinliche Empfindung. Sie hatte nie anders geglaubt, als daß ihre Cousine in der glücklichsten Ehe lebte. Aber ihre letzten Worte klangen nicht danach; ihre düstre Miene war nicht danach – schon während des ganzen Besuches und nun eben jetzt!
Nicht, als ob wir, Elimar und ich, immer d'accord wären, sagte sie gutmütig schnell. Gar nicht! Wir zanken uns oft ganz fürchterlich. Das ist in der Ehe mal so. Nicht wahr?
Je nachdem, erwiderte Klotilde mit demselben starren, nachdenklichen Blick. Viktor und ich zanken uns nie.
Na, da siehst Du es! rief Adele triumphierend.
Aus einem sehr triftigen Grunde, fuhr Klotilde fort, die Augen langsam erhebend, aber an Adele vorüber in das Zimmer sehend: er geht seinen Weg; ich gehe den meinen. Da ist denn dafür gesorgt, daß wir nicht karambolieren.
Das ist doch nicht Dein Ernst, sagte Adele ganz verblüfft.
Weshalb nicht? erwiderte Klotilde. Du glaubst gar nicht, wie gut es sich lebt, wenn jeder seine Interessen verfolgt. Was ja nicht ausschließt, daß die Interessen gelegentlich zusammenfallen. Im Gegenteil! Ich habe zum Beispiel ein großes Interesse daran, daß Viktor in seiner Karriere schnell vorwärts kommt, und helfe ihm dabei, wo und wie ich kann.
Aber was kann man dabei groß helfen? fragte Adele verwundert.
Klotilde wurde die Antwort erspart. In der Flurtür wurde ein Schlüssel gedreht; eine hohe männliche Gestalt trat schnell herein und kam mit langen Schritten auf die Damen zu.
Elimar! rief Adele, ihrem Gatten entgegenlaufend. Rate, wer mich besucht!
Da ist nicht groß zu raten, Närrchen; erwiderte Elimar, an Klotilden herantretend und die Hand, die sie ihm reichte, küssend. Aber blieb, sehr lieb ist es von Ihnen, daß Sie so schnell gekommen sind, sich meiner Kleinen in ihren tausend Nöten anzunehmen. Wollen wir nicht in das Zimmer treten? Die wichtigen Dinge, welche die Damen zwischen Tür und Angel zu erledigen pflegen, müßten da freilich vertagt werden.
Nur einen Augenblick, sagte Klotilde; nur um mich zu überzeugen, ob es wahr ist, daß der Mensch mit seinen größern Zwecken wächst.
Das sollte mir bei meinen sechs Fuß und darüber doch schwer werden, erwiderte der Hauptmann lächelnd.
Aber Klotilde ist noch gewachsen, rief Adele. Jetzt sehe ich er erst recht, wo Ihr nebeneinander steht. Findest Du nicht auch?
Ich finde Deine Cousine nur so schön und schlank und elegant wie immer, seitdem ich das Glück habe, sie zu kennen.
Mit welchem Kompliment ich mich denn ganz gehorsamst verabschieden will, sagte Klotilde, sich ironisch tief verbeugend. Also, adieu, Schatz, bis heute abend! Au revoir, Herr Hauptmann! Und, wenn ich Ihnen raten darf, gehen Sie heute abend mit Ihren Galanterien etwas sparsamer um: die Konkurrenz ist zu groß.
Wenn alle Damen mir durch ihre Liebenswürdigkeit die Galanterie so leicht machten!
Adele, Dein Mann ist positiv gemeingefährlich. Du mußt ihn kürzer in den Zügel nehmen!
Ist schlechterdings unmöglich, gnädige Frau.
So sagt Ihr Männer stets. Übrigens das »gnädige Frau« darf ich mir wohl verbitten. Ich denke, wir nennen uns einfach bei unsern Vornamen, wenn wir unter uns, und meinetwegen: lieber Cousin und liebe Cousine, wenn wir unter Leuten sind.
Seien Sie versichert, daß ich diese Erlaubnis wie einen höchsten Orden tragen werde.
Nun mach aber, daß Du fortkommst! rief Adele, Du verdrehst mir ihm ja völlig den Kopf.
Aber Schatz, von Zeit zu Zeit einem Manne den Kopf zu verdrehen, das ist doch noch der einzige Spaß, den wir im Leben haben.
Sie war zur Flurtür hinausgeschlüpft, Adele hatte sich in den Arm ihres Gatten gehängt, während sie über den dunklen Korridor nach dem Wohnzimmer gingen.
Sie meint es gewiß nicht so, sagte Adele, den untergefaßten Arm zärtlich drückend.
Ich weiß nicht, erwiderte Elimar; ihre Augen schienen mir das Programm zu bestätigen.
Ja, was ist das nur mit ihren Augen? rief Adele. Es ist mir auch aufgefallen. Die sind gar nicht mehr wie vor vier Jahren. Hast Du nicht auch die Empfindung, daß sie in ihrer Ehe nicht glücklich ist?
Möglich wäre es schon. In der Ehe, wie überall, stoßen gleichnamige Pole einander ab.
Was heißt das: gleichnamige Pole?
Das heißt erstens, daß Du mein höchst ungleichnamiger Pol bist; und zweitens, daß ich in Ohnmacht falle, wenn nicht in fünf Minuten die Suppe auf dem Tisch steht.
Mit Dir ist doch kein vernünftiges Wort zu sprechen, Du Ungeheuer! Wenn ich nur wüßte, weshalb ich Schaf das Ungeheuer so lieb habe!
Sie hatte, sich auf die Zehen stellend, Elimar ein paar herzhafte Küsse auf die Lippen gedrückt und war zu Tür hinaus.
Elimar war aus dem Wohnzimmer in sein kleines Arbeitskabinett nebenan getreten, legte die Mütze und eine dünne schwarze Mappe, die er noch immer unter dem linken Arme geklemmt hielt, auf den Tisch, schnallte seinen Säbel ab, den er in die Ecke stellte, und begann, langsam die Handschuhe ausziehend, nachdenklich auf und ab zu gehen.
Ja, ich habe sie sehr geliebt, das schöne, schlanke, braunäugige Mädchen. Und sie hat es gewußt! Wann wüßte ein Mädchen das nicht! Aber damals spielte die Geschichte mit Baron Platow, der dann abschnappte. Und dann heiratet man Hals über Kopf den ersten Besten, der einem in den Weg läuft und macht sich Zeit seines Lebens unglücklich. – Pah!
Er warf die ausgezogenen Handschuhe in die Mütze.
Unglücklich! Wer ist denn glücklich? Wer zu resignieren gelernt hat. Niemand sonst!
Elimar! rief Adelens helle Stimme aus dem Speisezimmerchen neben der Wohnstube.
Ich komme, Kind! rief Elimar zurück.
Klotilde schritt die Mauerstraße, in welcher die Wohnung der Meerheims lag, nach der Leipziger Straße zu. In dem Putzladen an der Ecke hatte sie nach einem Fächer zu fragen, der repariert werden sollte. Der Fächer war noch nicht fertig. Während sie vor dem Ladentische wartend saß und eine der Verkäuferinnen die gnädige Frau zu unterhalten sich bemühte, dachte sie an Adelens Kleid für heute abend. Sie hätte ihr doch eigentlich sagen sollen, daß das Kleid für die große Gesellschaft unmöglich war. Sie wird darum doch riesig gefallen. Ich kenne das. Eine neue Erscheinung – danach schnappen sie alle. Und die lachenden Augen, die weißen Zähne, die frischen, roten Lippen – Furore wird sie machen. Daß in dem kleinen, hohlen Schädel auch nicht ein einziger Gedanke steckt – was tut denn das? Wer fragt danach?
Der Fächer wurde gebracht. Klotilde griff nach dem Portemonnaie.
Aber gnädige Frau, lassen Sie doch! sagte die Verkäuferin. Wir schreiben es zu dem übrigen.
Wie Sie wollen.
Der Pferdebahnwagen nach dem Lützowplatz kam nicht gleich. An der Ecke standen nur Droschken zweiter Klasse, die sie grundsätzlich nicht benutzte. So fing sie an, die Leipziger Straße hinabzugehen, die im Laden angesponnene Gedankenkette weiter spinnend.
Wie er sie nur hat heiraten können! Ein so geistvoller Mensch! Darüber ist doch nur eine Stimme. Sie hätten ihn auch sicher sonst nicht in das Kriegsministerium genommen! Und dieses Gänschen! Diese richtige Gans! Ihre paar Groschen können es auch nicht gewesen sein – die hätte er bei mir ebenfalls gehabt. Und was kann ihm der Schwiegerpapa-Oberst a.D. für seine Karriere nützen? Also das hübsche Mäskchen und die Langweile – die grauenhafte Magdeburger Langeweile! Ein bißchen amüsanter ist es hier doch. Doch wenigstens die Möglichkeit einer interessanten Begegnung, eines pikanten Zufalls.
Klotilde war bis zur nächsten Haltestelle, gekommen, gerade als der erwartete Wagen sie einholte. Sie stieg ein. Der Wagen war nur mäßig besetzt, was sie durchaus in der Ordnung fand: ein sehr gefüllter erschien ihr stets als eine persönliche Beleidigung. Wer mag denn mit Krethi und Plethi in dem engen Kasten eingepfercht sein!
Nichtsdestoweniger musterten ihre scharfen Augen gewohnheitsmäßig die Insassen und blieben auf einem Herrn in der entferntesten Ecke der gegenüberstehenden Bank haften. Da war ja so etwas von einem pikanten Zufall! Wenigstens begegnete einem ein so hübscher Mann nicht alle Tage. Man hätte ihn vielleicht sogar schön nennen können, mit seiner geraden Nase und dem offenbar sorgfältig gepflegten, rötlichen Vollbart. Ein Offizier in Zivil? Möglich! Nur daß der Anzug dafür vielleicht zu elegant war und vor allem zu gut saß. Auch pflegen Offiziere unterwegs nicht in einem Buche zu lesen. Wenn er doch mit dem dummen Lesen aufhören wollte, daß man wenigstens seine Augen sehen könnte!
In dem Momente senkte der Herr das zusammengeklappte Buch zwischen den behandschuhten Händen auf die Kniee; steckte es dann in die Seitentasche seines Paletots; ließ seine Blicke durch den Wagen schweifen und sah mit der Miene eines, der sich tödlich langweilt, seitwärts zum Wagenfenster hinaus auf die Straße.
Klotilde war empört. Sie hatte, als der Herr sie erhob, seine Augen sehr deutlich gesehen: ganz ungewöhnlich große, ausdrucksvolle, blaue Augen; und förmlich körperlich gefühlt, daß diese Augen, im Vorüberstreifen des Blicks, ein paar Sekunden auf ihr geruht hatten. Und konnten jetzt durch das Fenster nach der wimmelnden Menge auf dem Trottoir starren, als ob es hier im Wagen schlechterdings nichts zu sehen gäbe!
Ich habe mich geirrt, sagte sie bei sich; er gehört nicht zur Gesellschaft.
Während der Wagen in vollem Fahren war, hatte sich ein Herr auf den Hinterperron geschwungen, einen Blick in den Wagen geworfen, mit freudig erregter Miene vor Klotilde tief den Hut gezogen und stand jetzt, die Tür eilig aufschiebend, vor ihr, auf den leeren Sitz neben ihr deutend.
Darf ich, gnädige Frau?
Aber, lieber Fernau, was könnte mir angenehmer sein?
Sie sind die Güte selbst, rief der junge Mann, Klotildens dargebotene Hand feurig drückend, während er ihr zur Seite Platz nahm. Seitdem ich weiß, daß gnädige Frau Pferdebahn fahren, werde ich mich nie eines andern, als dieses mir so verhaßten Vehikels bedienen.
Ja, lieber Freund, wir armen Assessorenfrauen –
Wer denkt an arme Assessorenfrauen, wenn er Sie sieht! Wer kann Sie sich anders vorstellen, als in einem goldnen, von Tauben gezogenen Wagen!
Den ich mir sofort anschaffen werde, sobald ich Ihnen in einem Muschelkahn begegnet bin, vor den ein Schwan gespannt ist.
Gnädige Frau waren gestern im Lohengrin?
Ich habe mit Bedauern bemerkt, daß Sie fehlten.
Sehr gütig! Aber, offen gestanden, seit ich im Sommer in Baireuth die Musteraufführung gesehen habe, kann ich mich nicht entschließen, mir den kolossalen Eindruck durch unsern landläufigen Schlendrian hier zu verleiden.
Aber ein Schwanenritter im seidenen Wams, das denke ich mir schrecklich.
Ich versichere, gnädige Frau – das heißt: ich war auch stupéfait; aber nur im ersten Augenblick. Dann ging mir sofort das rechte Licht auf. Und nun gar Sie, mit Ihrer für alles Großartige so empfänglichen Seele – Sie würden entzückt sein.
Klotilde hatte das leise Gespräch mit ihrem Bewunderer eifriger geführt, als sie es sonst vielleicht getan hätte; aber ihre Absicht, die Aufmerksamkeit des Herrn da drüben zu erwecken, erreichte sie nicht: er blickte jetzt zwar nicht mehr zum Fenster hinaus, aber gerade vor sich nieder, nach dem ernsten Ausdruck seiner Miene in wenig erfreuliche Gedanken versunken.
Kennen Sie den Herrn dort? fragte Klotilde, ihren eifrigen Begleiter mitten in einem angefangenen Satze unterbrechend.
Welchen Herrn?
Klotilde winkte mit den Augen nach dem Nachdenklichen in der Ecke.
Legationsrat von Fernau klemmte das Lorgnon in das Auge, blickte in die von der Dame angedeutete Richtung und erwiderte:
Nein. Warum?
Wofür halten Sie den Herrn?
Das Lorgnon, welches bereits fallen gelassen war, mußte abermals seine Dienste tun, diesmal länger als das erste Mal.
Nun?
Für einen Plebejer, der sich furchtbare Mühe gibt, wie ein Gentleman zu erscheinen.
Der pure Brotneid!
Aber gnädige Frau, Sie können doch unmöglich anderer Meinung sein!
Vielleicht doch!
Dann werde ich mir von morgen an einen Vollbart stehen lassen und mir Mühe geben, wie ein Schulmeister auszusehen.
Und das wäre kein Brotneid?
Ja, bei Gott, er ist es; furchtbarer Neid auf jeden, der nur an den Saum Ihres Kleides rührt; nur in Ihre Nähe kommt; nur –
Bitte, halten! sagte Klotilde zu dem Schaffner, der eben gerade durch den Wagen ging.
Gleich, meine Dame, sagte der Schaffner.
Klotilde saß in ihre Ecke zurückgelehnt; ihr Gesicht war lebhaft gerötet. Fernau erschrak; offenbar war er zu weit gegangen und hatte die schöne Frau ernsthaft beleidigt.
Aber das war es nicht. Es war nur, daß gerade in dem Moment, als der junge Mann, soweit es die Schicklichkeit irgend erlaubte, sich zu ihr hinabbeugend, leidenschaftlich hastig die letzten Worte flüsterte, der Herr drüben den Kopf gewandt und sie, wie ihr schien, scharf ins Auge gefaßt hatte. Sie sagte sich sofort, daß es nur zufällig gewesen sein könne; überdies hatte sie vom ersten Augenblick etwas der Art gewünscht, die kleine Komödie wesentlich deshalb gespielt und fühlte sich jetzt beschämt wie ein Schulmädchen, das der Lehrer an der Straßenecke im têtê-à-tête mit dem hübschen Primaner ertappt.
Sie zürnen mir, gnädige Frau, sagte der junge Mann bedrückt.
Ach, lieber Freund, da hätte man viel zu tun, wenn man Euch Kindern so oft zürnen wollte, wie Ihr es verdient. Wir sehen uns doch heute abend bei Sudenburgs?
Gewiß, gnädige Frau.
Dann also au revoir!
Darf ich bitten, mich dem Herrn Gemahl zu empfehlen?
Wenn ich's nicht vergesse!
Der Wagen hielt. Fernau wäre für sein Leben gern mit der schönen Frau ausgestiegen; aber er wagte es nicht. Dafür warf er, während der Wagen weiter fuhr, dem Herrn in der Ecke mehr als einen wütenden Blick zu, welchen dieser, der wieder vor sich nieder sah, glücklicherweise nicht bemerkte.
Das ist doch seltsam, sagte Klotilde bei sich, während sie in der Querstraße auf ihre Wohnung zuschritt. Was war das nur eigentlich mit dem Herrn? Er war nicht einmal so schön wie Fernau; und Fernau hatte recht: trotz seiner Eleganz sah er doch eigentlich wie ein Spießbürger aus. Dennoch – wunderlich! ich glaube wahrhaftig, das Herz hat mir ordentlich geschlagen. Es ist nur die wahnsinnige Langweile. Es ist nur, weil –
Sie brach ihr Selbstgespräch jäh ab. Auf der andern Seite der Straße, um ein weniges ihr voraus, ging ihr Mann. Sie hätte ihn mit ein paar Schritten einholen, auf der fast menschenleeren Straße leichtlich mit einem halblauten: Viktor! abrufen können. Wozu? Er würde sich nicht freuen, sie zu sehen; und sie brannte nicht darauf, sein gleichgültiges: Ach, sieh da, Klotilde! zu hören. Wenn ihr doch ein Mensch sagen könnte, weshalb sie diesen, gerade diesen geheiratet hatte! Und weshalb Menschen, die sich nicht mehr lieben, vielleicht einander nie geliebt haben, nun so miteinander weiter leben müssen!
Ein bittres Lächeln zuckte um ihre Lippen. Wie hatte sie zu Adele gesagt: er geht seinen Weg, ich den meinen! Nun ja: da ging er; und sie ging hier!
Viktor war an dem Hause angelangt. Er hatte geschellt, blickte, auf das Öffnen der Tür wartend, sich zufällig um und sah seine Frau über den Straßendamm kommen.
Ach, sieh da, Klotilde! Aus der Stadt?
Ja. Ich muß an Dir vorübergefahren sein.
Die schönen Räume der Wohnung des Ministerialdirektors Sudenburg hatten seit einer halben Stunde angefangen, sich mit den eingeladenen Gästen zu füllen. Die ersten waren, wie stets, die jungen, unverheirateten Offiziere gewesen, die mit dem Glockenschlage acht sich einfanden – Kameraden, zumeist der beiden älteren Söhne des Hauses, Fritz und Franz, Sekondelieutenants: Fritz in der Artillerie, Franz in der Infanterie. Zum Glück für Stephanie, die kaum noch wußte, was sie mit dem uniformierten, wenig ausgiebigen Schwarm beginnen sollte, waren dann auch bald, beinahe gleichzeitig, ihre liebste Freundin Klotilde mit Viktor, und Adele mit ihrem Gatten gekommen, und sie mußte vorerst einmal Adele, welche ganz neu in diesen Kreis trat, »ein wenig lancieren«. Adele hatte es ihr nicht schwer gemacht. Von der Furcht, die sie heute vormittag angesichts ihres Debüts in der Berliner Gesellschaft gehabt haben wollte, war schlechterdings nichts zu bemerken. Jeder der ihr Vorgestellten, gleichviel, ob Herr oder Dame, schien für sie eine intime Bekanntschaft zu sein, deren Anfang bis in ihre Kinderjahre zurück datierte. Eine entzückende kleine Person, sagte Hauptmann von Luckow zu ein paar jüngeren Kameraden. Diese lachen den, blauen Augen, diese lustig blitzenden, weißen Zähne, dies fröhliche Geplauder – wahrhaftig, das wirkt wie eine Oase auf den verschmachtenden Wanderer in der Wüste.
Das Wort machte die Runde. Es dauerte nicht lange, bis – mindestens unter den jüngeren Herren – keiner von Adele anders, als von der »Oase« sprach.
Inzwischen hatte sich Elimar ebenfalls sein Terrain erobert, ohne daß man von ihm, so wenig wie von Adele, sagen konnte, er habe es darauf abgesehen gehabt. Aber seine gehaltene, gegen Höher- und Niedrigerstehende gleich liebenswürdige Freundlichkeit; seine große Unterhaltungsgabe, der jedes Thema genehm, und die doch niemals nach Beifall und Bewunderung zu haschen schien; die Melodie selbst seiner immer nur halblauten und immer gleich verständlichen Stimme – es wäre nicht erst nötig gewesen, daß der Kriegsminister, der eben erschienen war, ihn, sobald er nur erst die Wirte begrüßt, sofort durch ein längeres, augenscheinlich sehr intimes Gespräch auszeichnete, um die Gesellschaft von der Bedeutenheit des Mannes zu überzeugen.
Die Gesellschaft war jetzt beinahe vollzählig; es schien sogar ein wenig an Raum zu fehlen, aber nur, weil in der langen Flucht der Zimmer einige so gut wie leer blieben, während die Herrschaften sich in einigen wenigen zusammendrängten.
Mama hat gut reden, sagte Fritz zu Franz, sich heimlich den Schweiß von der Stirn wischend; ich kann sie nicht auseinander bringen; sie stehen wie die Mauern.
Wenn man die kleine Meerheim da loseisen könnte! Es laufen dann gleich ein Dutzend nach.
Wird sich kaum noch der Mühe verlohnen. Endlich müssen wir doch einmal zum Souper kommen. Bist Du mit der Tischordnung fertig?
Hat sich was mit Tischordnung, wenn Stephanie mir die ganze Geschichte wieder umkrempelt. Sagt, ich hätte lauter dummes Zeug gemacht!
Wirst Du auch, alter Sohn!
Meinetwegen. Ich bekümmere mich nicht mehr darum. –
An einen Schwarm von Herren, der Klotilde umringte, trat Viktor eilfertig heran.
Verzeihung, Ihr Herren! Ich möchte meiner Frau –
Bitte! bitte!
Was gibt's? fragte Klotilde.
Hast Du mit Excellenz schon gesprochen?
Welcher? Es sind ein halbes Dutzend hier.
Mein Gott, mit unsrer natürlich.
Ich weiß noch gar nicht, daß sie hier sind.
Schon seit einer Viertelstunde. Er ist allein da und hat mich schon nach Dir gefragt. Bitte, komm' gleich mit!
Er hatte ihr den Arm geboten, den sie ihm willig reichte. Excellenz war einer ihrer wärmsten Verehrer, und von Excellenz allein hing es ab, ob Viktors Ernennung zum Regierungsrat bereits zu Neujahr, oder erst zu Ostern erfolgte.
Du kannst ihm auch sagen, flüsterte Viktor, während sie sich durch die Menge drängten, daß ich die halben Nächte über den Akten sitze.
Laß mich nur machen, flüsterte Klotilde zurück, und bei sich sagte sie: meinetwegen die ganzen.
Es mußte für diesmal bei ihrem guten Willen bleiben. Als sie endlich bis in die Nähe des allmächtigen Mannes gelangten, fanden sie ihn in einer, wie es schien, sehr eifrigen Unterhaltung mit dem Kollegen vom Kriegsministerium, einem andern hohen Offizier und dem Wirt des Hauses. Für den Augenblick war an eine Annäherung nicht zu denken.
Dann aber unter allen Umständen nach Tisch, sagte Viktor ärgerlich. Wirst Du tanzen?
Sonderbare Frage!
Ich wollte nur sagen: richte es so ein, daß Du für einen, oder ein paar Tänze frei bleibst. Nach Tisch ist er immer am zugänglichsten.
Nachgerade weiß ich wirklich, was ich zu tun habe.
Ich wäre der Letzte, der daran zweifelte.
Also! – Wollten Sie etwas von mir, liebe Stephanie?
Etwas sehr Dringendes. Bitte, Herr von Sorbitz!
Viktor war mit einer Verbeugung zurückgetreten; Stephanie hatte die Freundin unter den Arm gefaßt und ein paar Schritte seitwärts aus dem Schwarm in eine leere Fensternische geführt.
Um was handelt es sich? fragte Klotilde.
Liebes Herz, Du kannst mir aus einer großen Verlegenheit helfen. Wie ich eben die Tische revidiere, sehe ich, daß Franz neben anderm Unsinn – man kann dem Jungen wirklich nichts überlassen – einen Gast, den wir heute zum erstenmale hier haben, ganz falsch placiert hat.
Meinen Cousin Meerheim?
Den habe ich für mich genommen. Nein! Aber Klotilde, nun kannst Du einmal wirklich zeigen, daß Du mich lieb hast.
Mein Gott, das klingt ja ganz feierlich.
Feierliches ist nun schon gar nicht dabei. Aber Franz hatte Dir Fernau gegeben, und ich weiß, daß Du ihn gern hast.
In allen Ehren.
Aber, Schatz, das versteht sich doch von selbst! Er soll jetzt Deine Cousine führen. Ich habe eben Franz zu ihm geschickt: er habe Euch beide verwechselt.
Fernau wird entzückt sein.
Das gerade nicht, obgleich die kleine Dame wirklich ganz allerliebst ist, trotz ihres mindestens dreimal neu garnierten Kleides. Für Dich nur, Du armes Opferlamm –
Ich bin auf alles gefaßt.
Das heißt: so schrecklich ist er gar nicht – im Gegenteil! ich kann mir denken, daß es Damen gibt, die für ihn schwärmen, ebenso wie seine Jungen. Gott sei Dank! nun ist es heraus! Es ist also der Ordinarius von Oskars Klasse, der sich Oskars sehr annimmt. Und Papa, der sehr große Stücke auf ihn hält – was Du ja schon daraus sehen kannst, daß er heute abend eingeladen ist – hat mir auf die Seele gebunden, ihn auf irgend eine Weise auszuzeichnen. Nun, Schatz, wie könnte ich das besser, als wenn Du die kolossale Liebenswürdigkeit hättest –
Ich habe die kolossale Liebenswürdigkeit. Her mit dem Mann! Wo ist er?
Er ist eben erst gekommen – diese Leute denken, es ist vornehm, wenn man spät kommt – und spricht – oder sprach vorhin nebenan mit Mama. Ich hole ihn Dir.
Noch eins! Wie heißt er?
Winter. Doktor Winter, oder Professor. Ich weiß nicht. Finde ich Dich hier wieder?
Stephanie war davongeeilt.
Adieu! te quitter c'est mourir, sagte hinter Klotilde, nicht eben weit von ihrem Ohr, eine leise Stimme.
Aber es muß doch nicht gleich sein, rief Klotilde, sich lachend wendend.
Auf der Stelle, erwiderte Fernau. Hélas, madame!
– un présage terrible
Doit livrer mon coeur à l'effroi:
J'ai cru voir dans un songe horrible
Un échafaud dressé pour moi.
Sollte das nicht etwas zu spät kommen? Mir scheint, Sie haben Ihren Kopf bereits verloren.
Wer ihn über gewisse Dinge nicht verliert, hat keinen zu verlieren. Also:
Adieu, charmant pays de France!
Adieu, Sie Unverbesserlicher! Sie –
Klotilde kam nicht weiter; die Stimme versagte ihr und das Blut schoß ihr in die Wangen: neben ihr stand Stephanie mit einem Herrn, der sich eben tief verbeugte, und in welchem sie trotz der veränderten Kleidung und der andern Beleuchtung sofort jenen Passagier in der entgegengesetzten Ecke des Pferdebahnwagens erkannte.
Hier, liebe Klotilde, bringe ich Dir Herrn Professor Albrecht Winter, der glücklich ist, Deine Bekanntschaft zu machen. Herr Professor Winter – Herr Legationsrat von Fernau.
Ich habe die Reisebriefe des Herrn Legationsrats durch die südlichen Provinzen Frankreichs mit Entzücken gelesen, sagte Albrecht verbindlich.
Sehr obligiert, Herr Professor. Die Tage des seligen Thümnel mit ihrem sentimentalen Posthornschall und lustigem Peitschenknall sind leider vorüber.
Was wir an Sentimentalität und Humor verloren, haben wir an der scharfen Beobachtung von Land und Leuten reichlich gewonnen.
Und so weiter – nach Tisch! rief Stephanie. Herr Professor, Sie wissen, daß Ihnen das große Los zugefallen ist, die gnädige Frau zu führen. Da kommen die älteren Herrschaften schon. Schließen Sie sich, bitte, hernach an! Machen Sie, daß Sie zu Ihrer Dame gelangen, Herr von Fernau! Ich muß auch nach meinem Herrn sehen.
Stephanie hatte Fernau mit sich genommen.
Da das große Los nun einmal auf mich Unwürdigen gefallen – sagte Albrecht, Klotilde den Arm bietend.
Ich glaube, ich bin verrückt, sagte Klotilde bei sich, als sie fühlte, daß die Hand, die sie auf ihres Begleiters Arm legte, zitterte.
Sie hörte auch kaum etwas von dem, was der Professor sagte, während sie so auf den Moment warteten, wo sie sich dem paarweisen Zuge, der aus den Nebenzimmern nach dem Speisesaale strömte, anschließen konnten. Das Geschwirr der Stimmen, welches vorhin die Räume sinnverwirrend erfüllt hatte, konnte nicht schuld daran sein: es herrschte eben jetzt eine fast lautlose Stille. Aber auf ihrer Seele lag es wie eine Betäubung, die ihr sonst völlig fremd war, und für die sie vergebens nach einer Erklärung suchte. Diese so unerwartete Wiederbegegnung noch an demselben Tage war ja überraschend, nur daß sie für Überraschungen eine große Vorliebe hatte; und die verblüffte Miene von Fernau bei der Vorstellung dessen, der ihn aus dem »charmant pays« verdrängte – das war eigentlich furchtbar komisch gewesen. Weshalb dann also dies alberne Herzklopfen und diese bängliche Empfindung, wie vor einer hereindrohenden Gefahr? Es war positiv lächerlich, und der Herr Professor mußte wirklich glauben, sie sei ein Gänschen von Buchenau, das zum erstenmal von Sterne und sentimental yourney reden hörte. Sie wollte, wenn sie erst einmal saßen, schnell ein Glas Sekt trinken. Das würde ihr den Kopf schon wieder in Ordnung bringen.
Als die letzten der jüngeren Herrschaften, zu denen Klotilde und ihr Begleiter gehörten, den Speisesaal betraten, hatten die älteren bereits in dessen kleinerem, nur durch ein paar Säulen von dem größeren vorderen getrennten Teil ihre Plätze eingenommen. Der gewaltige, von dem blendenden Licht der Kronenleuchter und der zahlreichen Wandkandelaber durchflutete Raum bot einen zauberhaften Anblick, zumal als alle nun in ihren schmucken Uniformen, tadellosen Gesellschaftstoiletten, lichten Gewändern, um die vielen, reich servierten, blumengeschmückten Tische gruppiert, lachend
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 31.05.2014
ISBN: 978-3-7368-1649-7
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