Children of the Revolution
Dragon Bridge
Kurzgeschichte von Anja Stephan
Copyright © 2020Anja Stephan
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Lektorat: Jacqueline Mayerhofer
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Emmeline blickte auf den Toten hinunter, der auf ihrem Tisch in der Leichenhalle lag. Sie seufzte. Diesmal hatte es einen Minister erwischt. Einen Minister! Noch dazu nicht nur irgendeinen. Emmeline kannte ihn aus der Zeitung, die ihn als Verfechter der Rechte der irischen Bevölkerung und der Fae darstellte. War er diesmal dem Falschen auf die Füße getreten?
Seit der Osterrevolution waren die Zeiten zunehmend rauer geworden. Gewalttaten nahmen immer mehr zu, fast täglich wurde jemand ermordet, hingerichtet oder überfallen. Die britische Polizei griff härter durch als jemals zuvor, hatte Sonderkommandos gebildet, die Black and Tans, die mit Maschinengewehren im Anschlag durch die Straßen patrouillierten. Selbst King George hatte sich schon vehement gegen dieses Vorgehen ausgesprochen. Aber was galt schon das Wort eines Engländers auf der irischen Insel? Nichts. Selbst dann nicht, wenn er sich König nannte.
Emmeline legte ein Tuch über den Leichnam von Minister Huntington. Die frisch gebackene Witwe war auch noch nicht erschienen. Wahrscheinlich sah sie gerade zu, dass sie sich und ihre Kinder in Sicherheit brachte. Denn wer wusste schon, wann die Situation eskalierte?
Nachdenklich wandte sich Emmeline ab und trat an das Waschbecken heran, drehte den Wasserhahn auf und schrubbte sich gründlich die Hände. Das Handtuch war neu. Sie roch daran. Die Angestellten in der Waschküche konnten sie gut leiden und besprühten die Handtücher ab und an mit Lavendel oder Rosenduft. Emmeline sog tief den Geruch ein, bevor sie sich die Hände abtrocknete. Als Dank würde sie ihnen Gebäck ausgeben, das man nur in der königlichen Bäckerei bekam.
Neben ihr klingelte es schrill und sie warf einen Blick auf die Uhr mit dem Temperaturmesser, der ihr sagte, dass der Kühlraum zu warm war. Sie legte das Handtuch weg und ging einen Raum weiter, wo der Heizkessel stand. Zögernd stand sie davor. Emmeline hatte immer Angst vor diesem Ungetüm gehabt – nein, nicht Angst, eher Respekt. Es schnaufte und es röchelte wie ein sterbendes Tier. Dabei war es glühend heiß wie Drachenatem und irgendwie hatte sie immer das Gefühl, anstelle einer Maschine etwas Lebendiges vor sich zu haben. Mit den Toten konnte sie besser umgehen.
Das Ding hatte ihr Cousin Eoin gebaut und ihr haarklein den dazugehörigen Mechanismus erklärt, wie Hitze einen Raum kühlen kann. Aber verstanden hatte sie es nicht.
Missmutig zog sie den Schutzmantel und die Handschuhe über, griff nach der Kohleschaufel und warf das Heizmaterial in den glühenden Schlund.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 29.06.2020
ISBN: 978-3-7487-4788-8
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