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Mit zitternden Händen ergriff Hans meine ebenfalls bebenden Hände und versuchte, mir in die Augen zu blicken. Der Regen prasselte auf uns herab und mir fiel es schwer, die Augen offen zu halten und mich auf sein Gesicht zu konzentrieren. Tränen, gemischt mit Regenwasser, perlten von meinen Wimpern herab und immer wieder blies der Sturm einzelne Strähnen in mein Gesicht.

Ich starrte auf das offene Meer, auf dem unser Boot, das noch vor wenigen Minuten unser Lebensinhalt war, alleine gegen die meterhohen Wellen anzukämpfen versuchte. Die Segel waren bereits zerstört, es hatte nicht mehr viel Kraft und es war nur noch eine Frage von vielleicht Minuten, bis unsere kleine Welt in den eisigen Fluten versinken würde.

Fast wäre ich mit unserem einzigen Lebensinhalt untergegangen – eine bessere Möglichkeit, meinem tristen und depressiven Leben trotz liebendem Ehemann zu entkommen, würde sich so schnell nicht mehr anbieten …

 

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Hans fasste grob mein Gesicht, drehte es wild zu sich und zwang mich so, in seine Augen zu sehen. „Warum Greta? Sag mir bitte, warum du das machen wolltest!“ Ich schüttelte mich so wild, sodass er erschrocken von mir abließ. Wütend funkelte ich ihn an und schrie voller Hass, Hass, weil er mir das Leben gerettet hatte: „Verschwinde und lass mich für immer alleine!“ Damit drehte ich mich um und lief davon.

 

Er wusste es genau. Er wusste, wie sehr ich unter meinem Leben litt, dass ich schon jahrelang Depressionen hatte, immer wieder Tabletten schluckte, mich aber nicht traute und sie wieder auskotzte.

Mit diesem Wissen, diesem Gefühl, nichts wert zu sein und von der täglichen Last erdrückt zu werden, wollte ich nicht mehr weiterleben, die Scham würde mich jeden Tag aufs Neue ein bisschen mehr zerfressen. Diesen Schmerz in meiner Seele würde auch das Kind, das seit sechs Monaten in mir heranwuchs, nicht lindern können. Mein Entschluss stand fest, ich wollte gemeinsam mit unserem kleinen Boot untergehen. Ich spuckte ihm wütend ins Gesicht, bevor er mich gegen meinen Willen ins Meer stieß und mit mir unter größter Kraft zum rettenden Ufer schwamm.

 

Nun lief ich weiter, die Böschung hinunter, kämpfte gegen den Sturm an, der mich immer wieder zurückzog, aber schließlich erreichte ich das Ufer, auf dem wir vor ein paar Minuten angekommen waren, und setzte mich auf den durchnässten Sandstrand. Mittlerweile hatten sich einige Menschen versammelt und beobachteten wohl mit einem mitleidigen Blick das kleine Boot, das nach wie vor gegen das wütende Wasser anzukämpfen versuchte. Meine Gedanken kreisten zurück in die Zeit nur ein paar Stunden zuvor.

 

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Wir waren, wie jeden Tag, auf dem Meer, um Fische zu fangen, die wir am Abend verspeisen konnten. Hans hatte vor einigen Wochen seine Arbeit in einem Bergwerk verloren und das Geld wurde immer knapper und knapper. Darum hatten wir uns dieses Boot für unser letztes Geld angeschafft, um unser tägliches Abendbrot zu sichern. Trotz Sturmwarnung und zwei Grad Außentemperatur blieb uns nichts anderes übrig, als auch heute in See zu stechen. Anfangs war Hans dagegen, dass ich mitkam – er fand es zu gefährlich. Ich aber sah darin meine Chance, heute meinem Leben zu entrinnen und für immer frei zu sein. Also wehrte ich mich gegen Hans' Vorschlag und er willigte schließlich ein.

 

Die Flut kam schnell. Eine heftige Sturmböe riss das Boot auf die linke Seite. Hans und ich verloren das Gleichgewicht und schlugen heftig auf dem Boden unseres Bootes auf. Im nächsten Moment zerbarste die Scheibe der Koje. Wasser strömte ein, der Wind pfiff. „Greta, wir müssen so schnell wie möglich von dem Boot runter“, hörte ich Hans schreien, der sich gegen das laute Tosen ankämpfte. Aber das hatte ich nicht vor. Das wollte ich ihm sagen, als ich sah, dass er über dem linken Auge eine blutende Wunde hatte. Er tat mir nicht leid. Er wischte sich mit einer schnellen Bewegung über diese, und als er meinen Blick bemerkte, schrie er abermals: „Greta, wir müssen hier weg. Springe ins Wasser!“ Ich aber blieb stehen und wartete auf den Tod, der ohne Frage hier kommen würde. Immer wieder preschte das Wasser gegen unser kleines Boot und ließ es und uns erschüttern.

Die zunehmende Schlagseite machte es kaum noch möglich, das Gleichgewicht zu halten und ich stützte mich auf einem Stuhl ab. Hans humpelte zu mir, scheinbar hatte er sich auch am Fuß verletzt, und riss mich aus meiner Lethargie. „Komm schon!“. Ohne dass ich mich wehren konnte, schleifte er mich aus der Koje aufs Deck. Meterhohe Wellen schlugen uns entgegen, der Regen peitschte uns ins Gesicht und der Sturm ließ uns erzittern. Mit aller Kraft hielt ich mich am Masten fest. Ich würde mit diesem Boot, das uns so oft nützliche Dienste geleistet hatte, untergehen! Hans versuchte, mich loszureißen, zerrte an mir und brüllte gegen den Wind: „Greta, Liebling, warum springst du nicht? Denk an unser Kind.“ Ich schüttelte den Kopf, meine nassen Haare fielen mir ins Gesicht und die Tränen liefen wie ein Wasserfall meine Wangen hinunter. An dieses Kind dachte ich und ich wollte nicht, dass es bei einer depressiven Mutter groß werden würde.

 

Ich hoffte nur, dass es schnell gehen würde. Bewusstlos werden, einschlafen und den vermutlich qualvollen Tod nicht miterleben zu müssen. Ich schloss meine Augen – und plötzlich riss ich sie wieder auf. Eisig kaltes Wasser umfasste meinen gesamten Körper und mir wurde klar, dass ich vom Boot hinunter ins Meer gestoßen wurde – von Hans. Neben mir führte er wilde Bewegungen aus, noch immer wehrte ich mich, aber trotz seiner Verletzungen war er stärker, hatte mich schließlich im Griff und mit gekonnten Bewegungen schwamm er mit mir zum Ufer. Wir waren nicht weit draußen, aber die tobende See verzögerte unsere Ankunft erheblich.

 

Als wir am Ufer angekommen waren, stürmten bereits einige Menschen auf uns zu, die Decken und Krüge, gefüllt mit Wasser, dabeihatten, und riefen wild durcheinander. Ein junger Herr, ich kannte ihn nicht, nahm Hans zur Seite und brüllte gegen den Sturm: „Wie geht es Ihnen, Herr Frey?“ Ist mit Ihrer Frau und dem Ungeborenen alles in Ordnung?“ Hans nickte nur, dann bat er, uns für einige Minuten alleine zu lassen.

 

Hans fasste grob mein Gesicht, drehte es wild zu sich und zwang mich so, in seine Augen zu sehen. „Warum Greta? Sag mir bitte, warum du das machen wolltest!“ Ich schüttelte mich so wild, sodass er erschrocken von mir abließ. Wütend funkelte ich ihn an und schrie voller Hass, Hass, weil er mir das Leben gerettet hatte, „Verschwinde und lass mich für immer alleine!“ Damit drehte ich mich um und lief weg.

 

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Nun saß ich hier und weinte stille Tränen, die der Sturm und Regen verschluckten. Ich hatte Hans, meine große Liebe, meinen Ehemann, weggeschickt und ich wusste, dass er nicht mehr zurückkommen würde. Er würde mit einer depressiven Frau, die sich und das gemeinsame Baby töten wollte, nicht zusammenleben wollen. Er würde mir das nie verzeihen können.

Ich griff mir auf den Bauch. Das Baby war ruhig, bewegte sich nicht, wie noch die Tage und Stunden zuvor und ich wusste, dass ich es verloren hatte.

 

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60 Jahre später

 

Greta Frey legte das Bild, das sie mit ihren runzligen Händen fest umklammert gehalten hatte, auf die Seite, um sich die Tränen aus den Augen zu wischen. Schon eine Stunde starrte sie auf die Fotografie, der Schmerz brannte in ihrer Seele, die Tränen in ihren Augen, aber sie konnte das Bild nicht weglegen. Zu lebendig waren die Erinnerungen an den Tag, damals vor 60 Jahren.

Wer die Fotografie gemacht hatte, wusste sie nicht mehr, auch nicht, wer es ihr gegeben hatte. Sie erinnerte sich nur, dass bei diesem Bild ein Brief dabei war, mit den Worten: „Damit du nie vergisst, was du gemacht hast!“

An diesem Tag hatte sie ihr Leben beenden wollen. Hans hatte das verhindert. Sie hatte überlebt, aber das gemeinsame, ungeborene Kind war umgekommen. Sie hatte Hans nie wieder gesehen. Er hatte sie geliebt, das Baby war ein Wunschkind. Nun war sie alleine. An diesem Tag vor 60 Jahren hatte sie alles verloren.

 

Erneut griff Greta nach dem Bild und rammte entschlossen ihre Nägel hinein und zerkratzte es Stück für Stück. Immer mehr verschwand das Foto, verwandelte sich in kleine Schnipsel, die zu Boden fielen. Mit dem letzten Schnipsel war Greta endlich frei. Sie konnte nun endgültig gehen.

„Schwester Theresa“, krächzte Greta, „ich bin nun bereit.“ Sie richtete sich stöhnend auf, wusste, dass es das letzte Mal Schmerzen waren. Die Schwester trat mit einer Spritze, die ein Gemisch aus MCP, Diazepam und Chloroquin enthielt, auf sie zu und stach die Nadel sanft in Gretas Haut.

Und diese schloss die Augen.

 

 

ENDE

Impressum

Texte: Michaela
Bildmaterialien: Gemäldebild Gruppe Kunst
Cover: selbst bearbeitet
Tag der Veröffentlichung: 01.09.2018

Alle Rechte vorbehalten

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