Hilfe! Komme gerade vom Gassi-Gehen. Ihr werdet nicht glauben, was mir passiert ist. So viel steht fest, ich gehe nie wieder alleine in den Wald!
In den Ferien bin ich für ein paar Tage zu meiner Tante gefahren. Sie besitzt einen wunderschönen Bauernhof, etwas abseits, direkt am Wald gelegen. Heute Nachmittag habe ich mir ihre beiden Hunde geschnappt und mit ihnen einen langen Spaziergang gemacht. Zuerst sind wir brav den geteerten Wegen gefolgt, doch dann sind wir übermütig geworden und marschierten querfeldein. Mit zwei Hunden an zwei Hundeleinen ist das gar nicht so einfach, sage ich euch. Bei zwei Bäumen geht der eine um den linken, der andere um den rechten und ich will eigentlich mittendurch. Aber den beiden hat es total Spaß gemacht, die Nasen fest an den Boden geklebt, fleißig schnüffelnd. In der Ferne haben wir drei Hasen und wenig später auch ein Reh gesehen, das heißt ich habe sie gesehen und die Hunde waren so mit schnüffeln beschäftigt, dass die nichts gemerkt haben. War vielleicht auch besser so. Durch ihr Bellen wären die armen Tiere gewiss zu Tode erschrocken. Je weiter wir in den Wald vordrangen, desto stiller wurde es um uns herum. Nicht einmal mehr Vogelgezwitscher vernahm ich. Ich hatte das Gefühl als wäre alle Tiere um uns herum verschwunden, als würden sie sich nicht hierher trauen, als wären meine Hunde und ich die einzigen Lebewesen in der Umgebung. Selbst die Blätter der Bäume sahen auf einmal nicht mehr so grün aus, die Stämme eher grau als braun, dabei hatten wir doch Frühling.
"Du denkst dir wieder einen Unsinn zusammen", schimpfte ich mich leise, doch das beklemmende Gefühl blieb. Wie auf einem Friedhof, fühlte ich mich. Wie als wäre ich von hunderten und aberhunderten Toten umgeben. Auch meine Hunde schienen irgendetwas zu spüren, denn sie liefen bedeutend langsamer, hielten sich nahe bei mir und warfen mir immer wieder fragende Blicke zu.
Auf einmal kamen wir an eine kleine Lichtung. Das Gras auf dem Boden war gelblich und wirkte verblichen. Wahrscheinlich drang durch die hohen umliegenden Bäume zu wenig Licht, als das es grün werden könnte, denn die ganze Umgebung wirkte eigenartig feucht. Wir standen unter einer großen, dichten Tanne, die ihre Äste bis zum Boden streckte, dort wo sie aufhörten begann undurchdringbares Dornengestrüpp, was seltsamerweise komplett grün war. Aus irgendeinem Grund fühlte ich, dass ich nicht weitergehen sollte. Was es für ein Gefühl war, kann ich nicht beschreiben, ich spürte es nur. Mit einem kurzen Blick auf meine Hunde, erkannte ich, dass es ihnen ebenfalls so erging. Sie standen stocksteif da, das Fell gesträubt, die Lefzen zu einem unhörbaren Knurren verzogen. Wenn ich jetzt weitergegangen wäre, hätten sie sich vermutlich geweigert. Ein beunruhigendes Zeichen. Sehr beunruhigend.
Plötzlich sah ich etwas silbernes durch die Äste glitzern. Ich ging ein paar Schritte vor, bis die Hundeleinen gespannt waren - meine Vermutung hatte sich als richtig erwiesen, sie weigerten sich - und schob vorsichtig die Äste auseinander, bis ich hindurchlinsen konnte. Mitten auf der Lichtung stand ein grober unbehauener Felsblock und darauf war ein silbernes Kreuz. Das hatte ich also gesehen. Komisch, wer stellt denn einfach so ein silbernes Kreuz in den Wald. Hat der denn keine Angst, dass es geklaut wird? Offensichtlich ja nicht. Obwohl, hier kam wahrscheinlich so gut wie nie jemand her und da war die Wahrscheinlichkeit, dass es jemand mitnehmen würde, etwas geringer. Viel geringer. Hatte es eben schon dort gestanden? Ich konnte es nicht mit Gewissheit sagen, obwohl ich mir eigentlich sicher war, dass ich es wegen seiner silbernen Farbe hätte bemerken müssen. Unheimlich.
Wie auf ein geheimes Kommando schlug die Kirchturmuhr des nächsten Dörfchens in diesem Augenblick sechs mal und ein Vogel flatterte auf und schrie ebenfalls. Sechs Mal. Jetzt bekam ich es mit der Angst zu tun. Das war doch kein Zufall. Dass die Kirchturmuhr tiefer und bedrohlicher klang als sonst, linderte diese nicht gerade. Verwendeten sie eine andere Glocke oder war das überhaupt nicht die Kirchturmuhr? In dem Moment, als ich mich umdrehte, um zu gehen, hörte ich hinter mir ein Kacken und fuhr herum, doch ich konnte nichts bedrohliches sehen. Mein Blick fiel zu Boden und ich musste mich wirklich zusammenreißen, um nicht laut aufzuschreien. Ich sah meine Beine nicht mehr! Sie waren in einem weißen Meer verschwunden. Wo kam dieser verdammte Nebel auf einmal her?! Meine Augen suchten meine Hunde. Vom einen war nur noch der Kopf zu sehen, Augen die mich hilfesuchend anstarrten, der andere war bereits im Nebel verschwunden.Panik ergriff mich. Hier ging etwas ganz und gar unheimliches vor sich, etwas, bei dem ich mit Gewissheit nicht dabei sein wollte, aber weg konnte ich jetzt nicht mehr. Ich würde mich in dieser trüben Suppe unweigerlich verlaufen, würde stolpern und mir den Fuß verknacksen. So folgte ich meiner Leine zu meinen Hunden, setzte mich auf gut Glück in die weiße Brühe auf den Waldboden, lehnte mich an den Stamm der Tanne und zog meine Hunde an mich. Beide pressten sich sofort kleinlaut und heftig zitternd an mich, was nicht gerade half, mich zu beruhigen. Vorsichtig lugte ich um die Tanne herum, hinter mir türmten sich die Nebelmassen zu einem riesigen Gebirge auf, ich sah keinen Meter mehr weit. Der gesamte Wald war von diesem unnatürlichen Nebel verschluckt. Durch das Gestrüpp lugte ich auf die Lichtung. Hier stand der Nebel nur etwa kniehoch. Wie ein Nebeltal im Nebelgebirge. Wäre es nicht so unheimlich, hätte ich darüber gelacht. Auf der anderen Seite, dort wo der Wald wieder begann, bildete der Nebel wieder eine blickdichte Decke.
Urplötzlich entdeckte ich am Waldrand gegenüber eine Gestalt. Sie war in einen dunklen Kapuzenumhang gewickelt, der ihr Gesicht verbarg. Unbeweglich stand sie da und überwachte die Lichtung. Ich betete, dass mich der Nebel und das Gestrüpp vor ihren Blicken versteckte, denn ich wusste nicht, wie sie reagieren würde, wenn sie mich entdeckte. Und ich hoffte, dass meine Hunde nicht bellten und sie auf uns aufmerksam machten. Doch meine Furcht schien als unbegründet. Der kleinere hatte den Kopf unter meine angewinkelten Beine gelegt, versteckte sich dort und der andere saß wie eine Figur unbeweglich neben mir und beschützte mich.
Wie hypnotisiert beobachtete ich die Gestalt. Was tat sie da? Auf wen wartete sie? Kamen noch mehr? Ich konnte überhaupt nichts von ihr erkennen, da der Umhang alles verdeckte und der Nebel den Rest übernahm. Plötzlich erschien eine weitere Gestalt, unweit der ersten. Auch sie blieb am Waldrand einfach stehen und begutachtete die Lichtung. Nach und nach tauchten immer mehr Kapuzenmänner auf. Einer war wenige Meter an uns vorbeigeschlichen. Ich hatte nur das Rauschen eines wallenden Umhangs gehört und sofort die Luft angehalten. Erschreckenderweise hörte ich keine Schritte. Die Gestalt trat auf keinen Ast, oder auf sonst etwas, das ein Geräusch verurschacht hätte. Es schien, als würde sie mit ihren Füßen nicht den Boden berühren. Schwebte sie auf dem Nebel? Mittlerweile standen schon an die zwanzig Gestalten rund um die Lichtung. Keine hatte mich bemerkt oder zumindest taten sie so. Immer noch bewegte sich keine vom Fleck. Da tauchte aus dem Nebel erneut eine Gestalt auf, gewandt in einen silberfarbenen Umhang, der mit der wabernden Masse verschmelzen zu schien. Oder war er in Nebel gekleidet? Eine spitze ebenfalls silberfarbenen Bartes hing aus der Kapuze heraus. Flankiert war er von zwei riesigen Kaputzengestalten, die offenbar so etwas wie seine Bodyguards waren. Dieses silberne Wesen betrat zuerst die Lichtung, gefolgt von seinen Wachen. Kaum hatte er die Lichtung betreten, folgten ihm auch alle anderen Gestalten und schwebten hinein. Vor dem Kreuz senkte er den Kopf und verbeugte sich. Ob er sich auch hinkniete konnte ich nicht erkennen, sah aber, dass er ein deutliches Stück tiefer in den Nebel verschwand. Mit ihm senkten auch alle anderen ihre Köpfe und begannen dumpf im Chor etwas zu murmeln. Was es war, konnte ich nicht hören, aber es klang so finster und bedrohlich, als würden sie den wahren Namen des Teufels nennen, oder etwas vergleichbares. Das monotone Geflüster schwoll an und durchdrang alles. Abrupt brach es plötzlich ab, das silberne Kapuzenwesen richtete sich auf und holte aus seinem Umhang einen Gegenstand, dass es am Fuße des Kreuzes auf den Stein legte. Dann drehte es sich um, blickte die anderen Gestalten kurz an, fragte sie leise zischend etwas und diese antworteten dumpf. Diesmal konnte ich es klar verstehen.
"Tork Amenturis. Tork Amenturis."
Daraufhin bildete sich eine Gasse, durch die das silberne Wesen hindurchschwebte und wieder im Wald verschwand. Die ganze Ansammlung löste sich auf und nach und nach zogen sich alle in die tiefe Nebelwand zurück aus der sie gekommen waren.
Lange, als alle Gestalten bereits verschwunden waren, saß ich noch unter dem Baum und wartete darauf, dass sich der Nebel verzog. Die gesamte Zeit konnte ich meinen Blick nicht von dem Kreuz wenden. Was hatte die silbernfarbene Kreatur dort hingelegt? Sie war ja offenbar eine Art Anführer. Aber was genau versteckte sich unter den Kapuzen. Menschen?
Irgendwann kehrte Farbe und Leben auf die Lichtung zurück. Der Nebel hatte sich zurückgezogen. Das Gras, von dem ich hundertprozentig sicher war, dass es zuvor gelblich gewesen war, erstrahlte nun in einem satten Grün, Vogelgezwitscher ertönte und ein Hase hoppelte über die Lichtung. Der Hund an meiner linken Seite, sprang auf und schüttelte sich, während sich der andere, der sich die ganze Zeit unter meinen Füßen versteckt hatte, ausgiebig streckte.
Die Gefahr war vorüber, das wusste ich. Ich war glimpflich davongekommen. Obwohl mich die Gestalten vermutlich bemerkt hatten, war ich von keinerlei Bedeutung für sie gewesen. Gott sei Dank.
Ich stand ebenfalls auf und streckte mich. Vom langen Sitzen war mein Rücken ziemlich verspannt und meine Unterseite tat unglaublich weh. Nun, das nahm ich gerne in Kauf.
Was war das für ein Kreuz? Was hatten sie da angebetet? Immer und immer wieder drehte sich mein Kopf in Richtung des Kreuzes und schließlich siegte die Neugier über die Angst. Vorsichtig begutachtete ich zuerst die Lichtung, ob nicht doch noch eine dieser Gestalten in Sicht war, setzte schließlich einen Fuß auf die Lichtung und wartete ab. Nichts geschah. Meine Hunde waren wieder ganz die alten und drängten sich fröhlich schnüffelnd an mir vorbei. Da sie nichts mehr witterten, beschloss ich ihren Spürnasen zu vertrauen und lief rasch zu dem Felsen. Sofort fühlte ich mich ungeschützt, da mich keine Bäume mehr verbargen. Was würde passieren, wenn eine dieser Gestalten zurückkäme? Ohne Nebel? Würde ich sie bemerken? Was würde sie mit mir anstellen, wenn sie mich entdeckte? Doch glücklicherweise blieb das Gefühl beobachtet zu werden aus. Ich beschloss, mir das Kreuz so schnell es ging anzusehen und dann endgültig von hier zu verschwinden.
Das Kreuz war von schlichter Schönheit, komplett aus silbernem Metall gefertigt. Die Ränder mit kunstvollen Hieroglyphen verziert. Auf dem Stein, am Fuße des Kreuzes lag ein Stück Fleisch. Aber nicht so eines, wie man es vom Metzger kennt. An der Oberseite war noch gräulich-weiße Haut und das Blut lief aus dem Stück heraus und den Felsen hinunter. Igitt. Mir kroch eine Gänsehaut über den Rücken und stellte meine Nackenhaare auf. Dieses Stück sah keinesfalls so aus, als hätten sie es beim Metzger gekauft. Es schien auch nicht von einem Tier zu stammen. Die Haut an der Oberseite war eindeutig die eines Menschen. Ekelhaft! Hatte sich jemand ein Stück aus seinem Oberschenkel geschnitten? Denn genauso sah es aus. Etwa dieses silberne Wesen? Das Fleisch anzufassen, um zu testen, ob es noch warm war, brachte ich nicht fertig, aber nachdem es immer noch blutete, schien es höchstens eine Stunde alt zu sein.
Ich musste hier schleunigst verschwinden. Was wenn sie wiederkamen? Da fiel mein Blick auf den Sockel. In den Fels gehauen stand dort eine Inschrift.
"Tork Amenturis." Und darunter.
"Stirb Sünder."
Jetzt wurde mir eindeutig zu viel und rasch machte ich mich auf den Heimweg, den ich Gott sei Dank ohne nennenswerte Zwischenfälle meisterte. Doch die Erinnerung an die Lichtung am Wald hatte sich glasklar in meine Gedanken gebrannt. Ich würde nie mehr in die Nähe dieser Lichtung gehen so viel stand fest.
Mist :| Durchs Schreiben habe ich mir jetzt so viel Angst eingejagt, dass ich morgen ziemlich sicher riesen Schiss haben werde, wenn ich mit den Hunden Gassi gehe. Na toll Gehirn, das hast du prima gemacht^^ Dankeschön.
Texte: Michaela Tunik-Brecht
Tag der Veröffentlichung: 12.04.2012
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